4714.11.2003Im
GesprächDie Griechen hatten keine Zeit für
Kultur REFORMBEDARFFrank-Patrick
Steckel über die Notwendigkeit, den Zusammenhang von Theater und
Gesellschaft zu rekonstruierenZum zehnten Jahrestag der
Schließung der Staatlichen Schauspielbühnen Berlins am 3. Oktober 1993
fand auf der Bühne des Schiller- Theaters unter dem Titel Theaterland
wird abgebrannteine Lagebestimmung des deutschen Theaters statt. Der
Theaterinitiative des Bundespräsidenten, die am 14. November 2003 in Berlin
ihre Fortsetzung finden soll, war nach Ansicht der Veranstalter eine Debatte
vorauszuschicken, die das Theater weniger in seinen finanziellen Nöten, als
in der grundsätzlichen, gesellschaftlich begründeten Krise seines
Auftrags betrachten sollte. Frank-Patrick Steckel, Jahrgang
1943, einer der bedeutenden Protagonisten des zeitgenössischen deutschen
Sprechtheaters, gehörte zu den Initiatoren dieses Forums. 1970 war Steckel
Gründungsmitglied der neuen Schaubühne am Halleschen Ufer unter Peter
Stein. Von 1978 bis 1981 leitete er das Schauspiel des Bremer Theaters
während der Intendanz von Arno Wüstenhöfer. 1986 wurde er zum
Intendanten des Schauspielhauses Bochum berufen, das er - gemeinsam mit der
Choreographin Reinhild Hoffmann und ihrer Compagnie - bis 1995 führte.
Heute arbeitet Frank-Patrick Steckel als freier Regisseur.
FREITAG:
Herr Steckel, die Schließung des Berliner
Schiller-Theaters jährte sich Anfang Oktober zum zehnten Mal. Welche
Bedeutung hat diese Schließung Ihrer Ansicht nach für die heutige
kulturelle Situation?FRANK-PATRICK STECKEL: Eine entscheidende.
Sie war das Signal zur letzten Jagd. Die reichen Deutschen schließen das
Staatstheater ihrer alten und neuen Hauptstadt, also was wollt ihr? Noch die
Kollegen aus Petersburg bekamen das zu hören, wenn sie daheim nach der
Zukunft ihrer Theater fragten.
Das Problem in Berlin bestand darin,
dass die Schließung ein Vorgang war, der über zehn, fünfzehn
Jahre hinweg vorbereitet wurde, und zwar von den Politikern wie den
Theaterleuten gleichermaßen. Die Politiker trafen die falschen
künstlerischen Personalentscheidungen und die Künstler beeilten sich,
oft in grotesker Fehleinschätzung ihrer Kräfte, das unter Beweis zu
stellen. Das Ganze ist eine Katastrophe in vielfacher Hinsicht. Einmal, weil
eine große traditionelle Sprechbühne, an der bedeutende
Aufführungen stattgefunden hatten, verschwand und damit das Lebenswerk von
Boleslaw Barlog und einer oder zwei Generationen wesentlicher Schauspieler und
Regisseure und jede Möglichkeit einer Reform liquidiert wurden. Zum anderen
wegen der sich offenbarenden Hilflosigkeit, mit der die Theaterleute dem
Untergang schwatzend beiwohnten, sofern sie nicht - und das war in Berlin leider
überwiegend der Fall - in schrecklicher Kurzsichtigkeit meinten, sich
klammheimlich freuen zu dürfen. Und zum dritten wegen der nunmehr
erwiesenen politischen Jagdbarkeit selbst großer Theater. War das Schiller
Theater schließbar, war jedes Theater schließbar. In diesem Klima
leben und arbeiten wir heute.
Würden Sie sagen, der damalige
Vorfall hat die Fronten geklärt, an denen heute die Schlacht der
Kulturpolitik geschlagen wird?Nein. Das, worüber wir jetzt
geredet haben, ist nur die äußere Hülle des Problems. Das Problem
hat andere Seiten, die sich mit Fragen berühren, die man an die ganze
Gesellschaft stellen muss. Wohin soll sich das Ganze eigentlich bewegen? Es wird
uns gesagt, dass es zum ökonomischen Prinzip der Raffgier keine
Alternativen gäbe. Das kann man Theaterleuten aber nicht erzählen.
Theaterleute denken professionell in Alternativen. Außerdem ist Raffgier
nichts besonders Schönes. Das ist ein Punkt in der Diskussion mit den
Politikern, der sich rasant dem Aufprall auf etwas Hartes, innerhalb wie
außerhalb der Theater, nähert. Die Wahlbeteiligung in Brandenburg von
46 Prozent spricht für sich. Die Frage, wohin die gesamtgesellschaftliche
Entwicklung gehen soll, bildet die Grundlage jeder Debatte darüber, ob ein
Theater geschlossen wird. Theaterarbeit geht generell nicht mit der Agenda 2010
konform, sie kann es gar nicht. Ein Problem des Theaters ist, dass es mehr und
mehr von solchen Fragestellungen abgekoppelt wurde.
Hat die
Politik diese Abkopplung zu verantworten?Ja auch, aber auch von Seiten
der Künstler ließ das Interesse an gesellschaftlichen Fragen
ständig nach, während die Situation der Theaterleute der Deutschen
Demokratischen Republik sich mit der Wende krass wandelte und sie quasi
zwangsentpolitisiert wurden. Ich kann mich nicht erinnern, dass westdeutsche
Theaterleute in irgendeiner erkennbaren Form in den Prozess der
Wiedervereinigung auch nur hineingeredet hätten, geschweige denn
hineingewirkt. Während die Theaterleute der DDR gezwungen wurden zu
akzeptieren, dass von ihrer Arbeit und ihrem Land so gut wie nichts übrig
bleiben würde.
Dem Theater fehlen die Fürsprecher
außerhalb der eigenen Reihen. Es fehlen damit auch Leute, die sich
öffentlich für die Notwendigkeit dieser Staatsausgabe stark machen
wollen.Wenn das Bürgertum seine Repräsentanzinstitute,
Museen, Orchester, Theater, Ballettcompagnien aufgibt, zunächst innerlich
aufgibt, dann ökonomisch, aus Gründen, über die zu reden
wäre, dann gibt es keinen Ersatz. Es steht jenseits des Bürgertums
keine andere Klientel für das Theater zur Verfügung. Die Frage, warum
das Bürgertum diese Institutionen aufgibt, kann man mit der ganz
allgemeinen Frage verbinden, welches Bild es von sich selbst haben will und was
der Mensch in der spätbürgerlichen Kapitalgesellschaft von heute gilt.
Warum soll man die Angelegenheiten des Menschen in einer Gesellschaft, in der
der Mensch im Allgemeinen nichts als Geringschätzung erfährt, auf der
Bühne verhandeln? Das Reden von Niedriglohnempfängern, das Reden von
Arbeitsunwilligen, von Verbrauchern, das Reden von Ich-AGs und Minijobs
entstammt dem Wörterbuch der sozialen Geringschätzung. In Form eines
antikulturellen, deformierenden Erosionsprozesses durchdringt diese
Geringschätzung alle sozialen Sphären, entsolidarisiert sie, und die
unmittelbar Betroffenen lernen, sich selbst zu verachten. Für das Theater
ist das tödlich.
Was haben diese Menschen mit dem Theater zu
tun? Sie gehen überwiegend nicht hin, schon, weil sie es sich gar nicht
leisten können.Die Frage ist nicht, was haben diese Menschen mit
dem Theater zu tun, sondern, was hat das Theater mit ihnen zu tun. Wenn ein
Arbeitsloser nicht ins Theater geht, weil er sich davon nichts verspricht, ist
das Theater deshalb nicht berechtigt, ihn zu vergessen, im Gegenteil.
Das Bürgertum versagt hier nicht nur als Publikum, sondern vor
allem als Funktionselite in der Gesellschaft. Es hält es nicht mehr
für nötig, eine Art von sozialer Gesamtverantwortung zu
übernehmen. Auf diese Weise entsteht eine kulturelle Agonie, der sich auch
die Theater nicht entziehen können. Diese Agonie führt auch innerhalb
der Theater zur Erosion, zur Schließbarkeit. Derjenige, der sich gegen
Schließungen wehrt, muss sich gleichzeitig für eine Rekonstruktion des
Zusammenhanges von Theater und Gesellschaft und gegen die Asozialität oder
soziale Gleichgültigkeit weiter Teile seines Publikums aussprechen.
In welchen Bereichen besteht aus Ihrer Sicht Reformbedarf der
Theaterarbeit? Geht es da wirklich vor allem um die Tarife von
Bühnenarbeitern, wie man auf vielen kulturpolitischen Diskussionsforen zu
hören bekommt?Der Reformbedarf hat viele Gesichter. Eines davon
ist das finanzielle. Von Reformen wird gern im Hinblick auf Einsparungen
geredet. Das ist eigentlich Unsinn. Ein Theater, das auf sich hält, braucht
gute Kostümwerkstätten, eine gute Maske, eine gute Schuhmacherei, eine
gute Putzmacherei, eine gute Requisite, eine gute Beleuchtung, eine gute
Technik, lauter qualifiziert arbeitende Abteilungen, wenn es seinen
Gestaltungsmöglichkeiten in der gebotenen Vielfalt nachkommen will. Ein
stehendes Theater, das sich ernst nimmt, sollte sehr unterschiedliche
ästhetische Strategien verfolgen und ist folglich personalintensiv und
kostspielig.
Worin besteht denn dann der
Reformbedarf?Das viel Dringendere wäre eben eine politische, eine
kulturpolitische Reform, eine Funktionsbestimmung dieser Häuser, die in
ihnen selbst vorgenommen wird, gestützt von einer Kulturpolitik, die wieder
willens ist, sich vorzustellen, dass es so etwas wie Opposition gegen das, was
wir hier haben, in diesen Theatern geben könnte und dass Kunst, will sie
Kunst sein, sich mit dem Bestehenden nicht abfinden kann und darf. Das ist der
eigentliche Reformgedanke.
Für diesen Reformgedanken darf
man in der Kulturpolitik wohl kaum Unterstützung erwarten.Warum
eigentlich nicht? Früher gab es Kulturpolitiker, die wussten, dass Kunst
Opposition sein muss. Leute wie Glaser in Nürnberg beispielsweise oder
Hoffmann in Frankfurt am Main oder Erny in Bochum, die suchten ihre Leute so
aus. Heute ist genau das Gegenteil der Fall. Die dritte Reformfrage ist die der
inneren Struktur. Es berührt mich bitter, wenn ich sehe, wie wenig
Erinnerung an die Schaubühne zurückgeblieben ist. Das war der Versuch
eine demokratische, faire Struktur herzustellen, in der keine Macht
ausgeübt werden konnte, die sich nicht zu legitimieren bereit war. Die
Macht, die Peter Stein an der Schaubühne ausübte, verdankte sich
seiner intellektuellen Kapazität und seiner handwerklichen Autorität.
Heute finde ich immer mehr undurchschaubare Machtverhältnisse vor. Die
vielfachen Depressionen und Lähmungserscheinungen entspringen häufig
der vom Ensemble nicht hinterfragbaren Inkompetenz seiner Vorstände, nicht
zuletzt deren menschlicher Inkompetenz. Sie vergiftet die Atmosphäre in den
Häusern.
Sind denn diese demokratischen Theaterstrukturen
als Normalfall eines Stadttheaters überhaupt umsetzbar? So etwas bedeutet
doch eine enorme Verausgabung jedes Einzelnen in der geteilten Verantwortung
für das Ganze.Dem muss man sich stellen. Es geht nicht, dass ein
fest engagierter Schauspieler seine Arbeit lediglich darin ausgedrückt
sieht, dass er alle sechs Wochen ein anderes Kostüm anzieht. Daran
hängen viele andere Fragen. Wäre es nicht besser, längere
Probenzeiten und weniger Premieren anzusetzen, dafür aber eine höhere
Aufführungsqualität zu erreichen? Die Theaterarbeit als solche zu
intensivieren und den quasi industriellen Ablieferbetrieb zu drosseln? Und dann
muss fair und human vermittelt werden zwischen den zwei heterogenen sozialen und
körperlichen Wirklichkeiten des Theaters, der Wirklichkeit des
Schauspielers, der die Phantasie, und der des Technikers, der die Klamotten
bewegt. Es gibt Techniker, die sind seit 30 Jahren an einem Haus und haben noch
nie eine Vorstellung gesehen. Es muss also am Theater etwas gesellschaftlich und
persönlich vermittelt werden, was sonst nirgendwo vermittelt werden muss,
dessen Vermittlung öffentlich geradezu gemieden und unterdrückt wird.
Da helfen Tarifzankereien wenig.
Ich möchte noch einmal auf
die gesellschaftliche Funktion von Theater heute zu sprechen kommen. Was geht
verloren, wenn in der "Provinz" Theater geschlossen werden, wo es keinen Ersatz
für diese spezielle Form der Auseinandersetzung gibt?Das Desaster
ist eingebettet in ein anderes, größeres, das der amerikanische
Soziologe Richard Sennett den Tod des öffentlichen Lebens nennt. Es ist
nicht in erster Linie das Konkurrenzverhältnis zwischen Fernsehen und
Theater, an dem das Theater leidet. Das Fernsehen täuscht vor, man
könne am öffentlichen Leben teilnehmen, ohne sich in die Gesellschaft
hinein begeben zu müssen. Das ist sein wesentlicher Beitrag zum
Erlöschen des öffentlichen Lebens. Dieser Verödungsprozess muss
im Gang sein, damit ein Theater geschlossen werden kann, und wird das Theater
geschlossen, dann beschleunigt er sich. Das andere mit dem Nachrichtengewerbe
verbundene Problem ist sein nichtswürdiges Menschenbild, zum Beispiel in
der kommerziellen Werbung.
Aus der Sicht des Marktes ist im
Verhältnis zur Nachfrage unser bundesdeutsches Theaterangebot noch allzu
reichhaltig. Hier kann noch gespart werden. Was halten Sie dem entgegen? Warum
brauchen wir das Theater?In dem Augenblick, in dem man diese Frage
stellt, brauchen wir das Theater nicht mehr. Heidegger sagt irgendwo, die
Griechen hatten keine Zeit für Kultur. Und damit ist gemeint, sie hatten
keine Zeit für Kultur nötig, weil sie Kultur hatten. Aber gibt es erst
einen Kultursenator und eine Kultursendung und einen Kulturbeauftragten und ein
Kulturprogramm und eine Kulturfinanzierung, dann gibt es keine Kultur im
eigentlichen Sinn des Begriffs mehr. Und dann muss man die Frage "Warum braucht
man ein Theater" stellen und dann ist auch klar, dass man kein Theater mehr
braucht.
Wie und wann denken Sie an Ihr Publikum?Jede
Sekunde. Wenn ein Schauspieler sich in einem Raum bewegt und wir nach einem
Ausdruck suchen, dann bin ich der Repräsentant der hoffentlich
fünfhundert Leute, die hier später sitzen werden, um sich die
Aufführung anzusehen. Ich möchte ein klares, humanes, bewusstes und
geistvolles Verhältnis zwischen Schauspieler und Zuschauer etablieren. Dazu
gehört, dass Schauspieler und Zuschauer die Bühne als einen besonderen
Ort akzeptieren, einen Ort, der ihren Respekt verdient, weil er etwas
Ungewöhnliches für sie leistet.
Schaufelt das Theater
sich sein eigenes Grab, wenn es die Schwelle zur Bühne nicht hoch genug
ansetzt, um mit Künstlichkeit Distanz zur Gegenwart, zum Alltäglichen
zu schaffen?Mit Sicherheit. Die grassierende Beschränkung der
Theatermittel auf die vertrauten Ästhetiken der Gegenwart, stellt in meinen
Augen eine bedauerliche Verengung des Spielraums dar, das ist wie Malen ohne
Farben. Ich möchte etwas ganz anderes. Ich möchte mit falschen Haaren
und künstlichen Nasen und mit seltsamen Kostümen herum spielen.
Theaterformen anderer Kulturkreise würden sich dieses Ausbluten sowieso
nicht gefallen lassen. Wir haben keine prächtigen Konventionen mehr, die
sind uns alle zerbrochen worden. Das hohle Pathos und das falsche Pathos haben
das Pathos generell missbraucht und verschluckt. Was Peter Rühmkorf schon
1962 als Attacke gegen Paul Celan zu Papier gebracht hat "Schluss mit dem
Pathos, es lebe die Ironie", liest man heute erschrocken wie ein Manifest
für die Dinge, die heute auf dem Theater gang und gäbe sind. Das
entzieht jeder ernsthaften Beschäftigung mit Theater und dem, was ein
Schauspieler ist, die Grundlage. Die Kategorie des Spiels, des Spielens
verblasst.
Was können die Theaterleute tun, um den
Zusammenhang zwischen der Gesellschaft und ihrer Arbeit wieder deutlich werden
zu lassen?Die Theater sollten sich weigern, auch nur eine müde
Mark einzusparen. Die Intendanten sollten die Politik darauf hinweisen, dass die
Verarmung der öffentlichen Hand von ihr selbst zu verantworten ist und dass
sie nicht einsehen, warum man dieser falschen Politik durch absurde
Kürzungen Vorschub leisten soll, deren prozentualer Anteil an der
Bewältigung der finanziellen Gesamtkrise aufgrund des geringen
Haushaltsanteils sowieso marginal ist. Mit einem Anteil von 0,2 Prozent kann man
nicht 99,8 Prozent sanieren. Die Theaterkünstler sollten den Spieß
umdrehen und anfangen von gesamtgesellschaftlichen Tatbeständen zu reden,
die sie betreffen, aber eben auch viele andere, die Rentner, die Kranken, die
Arbeitslosen, die sozial Schwachen. Darüber muss so lange und so deutlich
geredet werden, bis ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gedrungen ist, dass
der Angriff auf die Theater ein Angriff auf sie selber ist, auch auf die
Menschen, die nicht ins Theater gehen. Rentenkürzungen, Erhöhungen von
Versicherungsbeiträgen, Angriffe auf die privaten Rücklagen, die doch
andererseits gerade verlangt werden, Verlängerung der Lebensarbeitszeit,
obwohl du mit 40 schon keinen Arbeitsplatz mehr kriegst, dieser ganze aggressive
Irrsinn bedroht ja uns alle. Und diesen Zusammenhang ebenso aggressiv
herzustellen, ist das Allerwichtigste in der nächsten Zeit. Da ist
Frankreich einmal mehr ein gutes Beispiel.
Das Gespräch
führte Anna OpelText im PDF-Format:
frank2.pdf