Pierre BourdieuKultur in GefahrLange
Zeit habe ich davor gewarnt, dass sich Sozialwissenschaftler zu
Zukunftsprognosen hinreißen lassen und den Anspruch hegen, auf
gegenwärtige und zukünftige Missstände hinzuweisen, um sie
anzuprangern. Doch durch die Logik meiner Arbeit sah ich mich mit der Zeit doch
dazu veranlasst, die Grenzen zu überschreiten, die ich mir im Namen eines
bestimmten Berufsethos auferlegt hatte und die mir zunehmend wie eine Form von
Zensur erschienen, so dass ich es heute - angesichts der Bedrohungen, die auf
der Kultur lasten und derer sich die meisten nicht bewusst sind, nicht einmal
die Schriftsteller, Künstler und Gelehrten, die doch eigentlich am meisten
davon betroffen sind - für notwendig halte, das, was eine besonders
avancierte Forschungsperspektive über die Effekte des sogenannten
Globalisierungsprozesses im Bereich der Kultur zu sagen hat, so bekannt wie
möglich zu machen.
Die bedrohte Autonomie
Den langen
Autonomisierungsprozess, im Zuge dessen sich in vielen abendländischen
Gesellschaften soziale Mikrokosmen herausgebildet haben, die ich Felder nenne
(wie zum Beispiel das literarische Feld, das wissenschaftliche oder das
künstlerische Feld), habe ich mehrfach beschrieben und analysiert
(besonders in meinem Buch Die Regeln der Kunst). Ich habe versucht zu zeigen,
dass diese Sphären ihren je eigenen Gesetzen gehorchen (das ist die
etymologische Bedeutung des Wortes Autonomie), und dass diese sich von den
Gesetzen der sie umgebenden sozialen Welt unterscheiden (besonders von denen der
Ökonomie; so war zum Beispiel die literarisch-künstlerische Welt,
zumindest in ihrem autonomsten Teilbereich, weitestgehend unabhängig von
den Gesetzen des Geldes und des Eigeninteresses). Auch habe ich immer auf die
Tatsache insistiert, dass dieser Vorgang in keinster Weise einer gradlinigen und
zielgerichteten Entwicklung hegelianischen Typs gleicht und dass die
Fortschritte in Richtung zunehmender Autonomie jederzeit ganz plötzlich
unterbrochen werden konnten, wie man angesichts der Errichtung diktatorischer
Regime in Deutschland, Spanien und Rußland sehen konnte, welche im Stande
waren, die ehemaligen Errungenschaften der künstlerischen Welten
schlagartig zu enteignen. Doch das, was den künstlerischen
Produktionssphären heute in allen modernen Industriegesellschaften
widerfährt, ist etwas völlig Neues, etwas so nie Dagewesenes: dass
nämlich die gegenüber den ökonomischen Zwängen hart
erkämpfte Unabhängigkeit der Produktion und Verbreitung von Kultur in
ihren Grundlagen bedroht ist, und zwar durch das Eindringen der kommerziellen
Logik in alle Ebenen der Herstellung und Zirkulation kultureller
Güter.
Die Propheten des neuen neoliberalen Evangeliums
verkünden nun, in der Kultur wie auch anderswo könne die Logik des
Marktes nur Gutes bringen. Dabei verleugnen sie - wie etwa im Fall des Buches,
dem sie jeglichen Schutz versagen - stillschweigend oder explizit jede Eigenart
kultureller Güter und behaupten, die neuen Technologien und
ökonomischen Innovationen zur Verwertung von Kulturgütern könnten
deren Quantität und Qualität und damit die Zufriedenheit der
Konsumenten nur steigern. Das setzt selbstverständlich voraus, dass all
das, was die neuen Unternehmensgruppen der Kommunkationsindustrie an
Büchern, Filmen oder Videospielen verbreiten und was global und
unterschiedslos als Information bezeichnet wird, als Ware gilt, somit also wie
jedes andere Produkt behandelt und dem Gesetz des Profits unterworfen wird. Das
riesige Angebot an themenbezogenen Fernsehkanälen, das durch das
Digitalfernsehen möglich wird, ziehe, ich zitiere, eine «explosion of
media choices» (explosionsartige Zunahme von medialen
Wahlmöglichkeiten) nach sich, so dass jede Art von Nachfrage und alle
Geschmäcker zufrieden gestellt werden könnten; allein die Logik des
Wettbewerbs begünstige in dieser wie in allen anderen Sparten kreatives
Schaffen. Gleichzeitig sei das Gesetz des Profits in diesen Bereichen auch
demokratisch, insofern es mehrheitlich für gut befundene Produkte positiv
sanktioniere.
Nur, was sind diese Argumente wert?
Dem Mythos der
Wahlmöglichkeiten kann man die Vereinheitlichung des Angebots sowohl auf
nationaler als auch auf internationaler Ebene entgegenhalten: Weit davon
entfernt, Vielfalt zu schaffen, hat die Konkurrenz eine gleichmacherische
Wirkung. Die Jagd nach dem größtmöglichen Publikum bringt die
Produzenten nämlich dazu, nach Einheitsprodukten Ausschau zu halten, die
auf ein Publikum quer durch alle Milieus und Ländern zugeschnitten sind,
weil sie sich kaum voneinander unterschieden und kaum Unterschiede
hervorbringen, wie zum Beispiel Telenovelas, Soap Operas, Krimiserien,
kommerzielle Musik, Boulevard- oder Broadway-Theater und
Allerweltswochenzeitschriften - also all das, was insgesamt als
«Mac-Donalds-Kultur» bezeichnet werden könnte. Zudem geht die
Konkurrenz, die ja ein Minimum an Vielfalt voraussetzt, im selben Maße
zurück, wie der Produktions- und vor allem der Verbreitungsapparat einem
Konzentrationsprozess unterliegt. Die Tatsache, dass durch die Herausbildung
großer Medienunternehmen die verschiedenen Etappen der Kulturproduktion und
-verbreitung zunehmend unter einem Firmendach zusammengefasst sind,
begünstigt einen Prozess, im Zuge dessen die Produktion kultureller
Güter immer mehr den Erfordernissen ihrer Verbreitung untergeordnet (ein
Beispiel sind die Multiplex-Kinos, die sich völlig dem Imperativ der
Verleihfirmen unterordnen) und damit einer regelrechten Zensur des Geldes
ausgesetzt ist (man weiß um die paradoxe Situation in den einst
«kommunistischen» Ländern, in denen an die Stelle der Zensur
einer autokratischen Macht die fast ebenso schreckliche Zensur des Geldes trat).
Vor allen Dingen jedoch neigt die ungeteilte Herrschaft der ökonomischen
Logik dazu, dem ganzen System die Imperative des kurzfristigen Profits und die
damit einhergehenden ästhetische Entscheidungen aufzuzwingen. Die
Konsequenzen einer solchen Politik sind im Verlagswesen genau dieselben. Auch
dort kann man einen ausgeprägten Konzentrationsprozess beobachten
(zumindest in den Vereinigten Staaten, wo der Buchhandel - abgesehen von den
beiden unabhängigen Verlegern W.W. Norton und Houghton Mifflin, ein paar
Universitätsverlagen und einigen kleinen, kämpferischen Verlagen - in
den Händen von acht großen Mediengiganten liegt) sowie denselben
Einfluss der Kulturvermittlung und -verbreitung auf die Kulturproduktion und
dasselbe Streben nach kurzfristigem Profit (was unter anderem dazu führt,
dass es immer häufiger Medienstars unter den Autoren gibt und dass das Geld
seine Zensur ausübt). Hier wird offensichtlich, dass die vor allem auf
Kurzfristigkeit angelegte Logik des Profits die strikte Negation von Kultur ist,
denn letztere setzt Investitionen mit mehr als unsicheren Gewinnchancen und
einem ungewissen, häufig sogar erst posthumen Rücklauf
voraus.
Ähnlich wie manche Tierarten in Gefahr sind, weil die
für ihr Überleben notwendigen ökologischen Bedingungen
verändert oder zerstört wurden, sieht sich die Kultur heute dadurch
bedroht, dass die ökonomischen und sozialen Bedingungen, in welchen sie
sich zu entwickeln vermag, zutiefst von der Logik des Profits durchdrungen
werden. Dies gilt für die fortgeschrittenen Industrienationen, in denen
bereits eine beträchtliche Kapitalakkumulation stattgefunden hat, die die
Voraussetzung für Autonomie ist, aber ganz besonders auch für die
anderen Ländern. Die relativ autonomen Mikrokosmen, innerhalb derer Kultur
erzeugt wird, müssen gemeinsam mit dem Schulsystem die Produktion von
Kulturproduzenten und -konsumenten sicherstellen. Die bildenden Künstler
haben fast fünfhundert Jahre benötigt, um die sozialen Bedingungen zu
erkämpfen, die einen Picasso möglich gemacht haben. Sie mussten um das
Recht kämpfen, die Farben selbst auszuwählen, die sie verwenden
wollten, und darum, wie sie sie verwenden wollten, sowie schließlich sogar,
vor allem mit dem Aufkommen der abstrakten Kunst, um das Recht auf die freie
Wahl ihres Gegenstands, auf dem ganz besonders die Macht des Auftraggebers
lastete. Ebenso könnte man endlos die Bedingungen aufzählen, die
nötig sind, damit Experimentalfilme und ein sie würdigendes Publikum
entstehen können, also, um nur einige davon zu nennen: Fachzeitschriften
und sie am Leben erhaltende Kritiken; kleine, auch Kunstfilme zeigende Kinos;
von ehrenamtlichen Mitarbeitern betriebene Filmklubs; Filmemacher, die bereit
sind, alles zu opfern, um Filme zu machen, auch wenn sie keinen unmittelbaren
Erfolg versprechen; Produzenten, die informiert und gebildet genug sind, um
diese zu finanzieren - kurz: es bedarf dieses ganzen sozialen Mikrokosmos,
innerhalb dessen das Avantgarde-Kino anerkannt und wertgeschätzt wird und
der heute bedroht ist durch das gewaltsame Vordringen des kommerziellen Kinos
und vor allem durch die Herrschaft der großen Verleihfirmen, mit welchen
die Produzenten, falls sie nicht selbst zu den Verleihern gehören, zu
rechnen haben.
Am Ende eines langen Emergenz- oder
Evolutionsprozesses treten diese autonomen Sphären heute in einen Prozess
der Involution ein: In ihnen spielt sich eine Kehrtwende ab, eine Regression des
Werkes hin zum Produkt, des Autors hin zum Ingenieur oder Techniker, der auf
technische Mittel setzt, die er nicht selbst erfunden hat, wie beispielsweise
jene berühmten Spezialeffekte, oder auf bekannte Stars, die von
auflagenstarken Hochglanzmagazinen gefeiert werden. Dies alles zielt auf ein
Massenpublikum ab, das kaum darauf vorbereitet ist, bestimmte - vor allem
formale - Experimente adäquat zu würdigen. Vor allem aber müssen
die neuen Techniker diese extrem teuren Methoden in den Dienst rein
kommerzieller Ziele stellen, das heißt, sie auf beinahe zynische Weise so
einsetzen, dass sie ein größtmögliches Publikum in ihren Bann
ziehen, indem sie dessen primäre Bedürfnisse befriedigen -
Bedürfnisse, die wiederum von anderen Technikern, den Spezialisten in
Sachen Marketing, vorhersehbar gemacht werden. Man kann beobachten, wie auf
diese Weise in allen Sphären kulturelle Produktionen entstehen (man
könnte Beispiele aus den Bereichen des Romans, des Kinos und selbst der
Poesie finden, wo Jacques Roubaud entsprechende Produkte mittlerweile als
«Müsli-Poesie» bezeichnet), die nichts als Nachahmungen sind, was
sogar so weit gehen kann, dass die Experimente der Avantgarde imitiert werden,
während zugleich mit den traditionellsten Reizschemata kommerzieller
Produktionen - wie Sex und Gewalt - gespielt wird. Aufgrund ihrer
Ambiguität können solche kulturellen Produktionen selbst
Kulturkritiker und -konsumenten mit modernistischen Ansprüchen mittels des
Allodoxia-Effekts täuschen.
Es kann nicht darum gehen, zu
wählen zwischen einerseits der «Globalisierung», verstanden als
die Unterwerfung unter die Marktgesetze, also die Herrschaft des
«Kommerziellen», was immer und allerorts das Gegenteil dessen
wäre, was unter Kultur zu verstehen ist, und andererseits der Verteidigung
nationaler Kulturen oder dieser besonderen Form von Nationalismus, dem
kulturellen Nationalismus. Die Kitschprodukte der kommerziellen
«Globalisierung», wie etwa die Filme eines am Massenpublikum
orientierten Spezialeffekte-Kinos oder die Produkte der «world
fiction», deren Autoren unterschiedslos Italiener, Inder, Engländer
oder Amerikaner sein können, haben nichts gemein mit den Produkten der
literarischen, künstlerischen und filmischen Internationalen, dieses
erlesenen Kreises, dessen Zentrum überall und nirgends ist, auch wenn es
lange Zeit in Paris zu finden war. Wie Pascale Casanova in La République
des lettres gezeigt hat, hätte die «entnationalisierte Internationale
der Kulturschaffenden» - die Joyces, Faulkners, Kafkas, Becketts oder
Gombrowiczs, diese (obwohl in Paris entstandenen) typischen Produkte Irlands,
der Vereinigten Staaten, der Tschecheslovakei oder Polens, oder die ganzen
zeitgenössischen Filmemacher aller Länder, die Kaurismäkis,
Manoel de Oliveiras, Satyajit-Rays, Kieslowskis und Kiarostamis, die sich so
herrlich der Ästhetik Hollywoods entziehen - niemals existieren und
fortbestehen können ohne eine internationale Tradition eines
künstlerischen Internationalismus und ohne, um es präziser zu sagen,
den schon vor langer Zeit entstandenen Mikrokosmos aus Kulturschaffenden,
Kritikern und aufgeklärten Rezipienten, dem es gelungen ist, an manchen
Orten zu überleben, die von der Invasion des Kommerziellen verschont
geblieben sind.
Für einen neuen Internationalismus
Diese
Tradition eines speziellen kulturellen Internationalismus ist, auch wenn es auf
den ersten Blick anders scheinen mag, etwas radikal anderes als das, was
gemeinhin «globalization» genannt wird. Denn dieses Wort, das wie ein
Art Losungswort oder Parole eingesetzt wird, dient als Maske und Legitimation
einer Politik, die auf die Universalisierung partikularer Interessen und einer
spezifischen Tradition der ökonomisch und politisch herrschenden
Mächte - insbesondere der USA - abzielt und versucht, das ökonomische
und kulturelle Modell, das diesen Mächten am meisten entgegen kommt, auf
die ganze Welt zu übertragen, indem es als eine Art Norm, ein Muss, und
zugleich als Unausweichlichkeit, als universelles Schicksal dargestellt wird, um
dadurch weltweite Zustimmung oder zumindest Resignation hervorzurufen. Es geht
also darum, im Bereich der Kultur die Besonderheiten einer speziellen
kulturellen Tradition, innerhalb derer die kommerzielle Logik zu ihrer vollen
Entfaltung gefunden hat, zu universalisieren, indem man sie dem gesamten Erdball
überstülpt. (Im Grunde ist es so - aber die Beweisführung
würde hier einige Zeit in Anspruch nehmen -, dass die kommerzielle Logik
ihre Macht aus der Tatsache bezieht, dass sie sich einen progressiv-modernen
Anstrich gibt, in Wahrheit aber nur der Effekt einer radikalen Form von
Laissez-Faire ist, welches für eine Gesellschaftsordnung charakteristisch
ist, die sich einfach ihrer momentanen Neigung und dem Gesetz des geringsten
Aufwands beugt, also einer quasi natürlichen Logik des egoistischen
Interesses und des unmittelbaren Begehrens, welche in Profitquellen umgewandelt
werden. Dies widerspricht der Vorstellung, dass, wie Durkheim bemerkt hat, die
Vorstellung von Kultur an sich ihre Wurzeln in einer Art Askese hat, also der
Weigerung, sich seinen unmittelbaren Primärbedürfnissen zu beugen.
Deshalb sind die verschiedenen Felder kultureller Produktion, die sich nur sehr
langsam und unter enormen Opfern herausgebildet haben, gegenüber
technologischen Kräften, die sich mit ökonomischen verbünden,
besonders angreifbar. Diejenigen, die sich - wie heute etwa die
Medien-Intellektuellen und andere Best-Seller-Produzenten - innerhalb der
verschiedenen Felder damit zufrieden geben, sich den Anforderungen der Nachfrage
zu beugen und daraus ökonomischen und symbolischen Profit ziehen, sind -
quasi per Definition - immer zahlreicher und zumindest für eine gewisse
Zeit einflussreicher als jene, die in ihrer Arbeit keinerlei Konzessionen an
irgendeine Nachfrage machen, also für einen nicht vorhandenen Markt
produzieren).
Diejenigen, denen diese Tradition eines kulturellen
Internationalismus noch etwas bedeutet, Künstler, Schriftsteller, Forscher,
aber auch Verleger, Galeristen und Kritiker aller Länder, müssen aktiv
werden, denn wir haben es heute mit einer Situation zu tun, in der die
Wirtschaftsmächte, die, entsprechend ihrer eigenen Logik, die Produktion
und Verbreitung von Kultur dem Gesetz des Marktes zu unterwerfen versuchen, sich
durch die sogenannte Liberalisierungspolitik beträchtlich gestärkt
sehen, eine Liberalisierungpolitik, die die ökonomisch und politisch
herrschenden Kräfte unter dem Deckmantel der «globalization»
universell durchzusetzen versuchen. Ich denke da besonders an das Allgemeine
Abkommen über den Handel mit Dienstleistungen (DATS), dem sich die
verschiedenen Staaten durch ihre Mitgliedschaft in der Welthandelsorganisation
(WHO) unterworfen haben und dessen Umsetzung derzeit verhandelt wird. Dabei geht
es, wie viele Beobachter analysiert haben - insbesondere Lory Wallach,
Agnès Bertrand und Raoul Jennar -, darum, die 136 Mitgliedsstaaten dazu zu
zwingen, den Dienstleistungsbereich vollständig den Gesetzen des
Freihandels zu öffnen und damit die Transformation sämtlicher
Dienstleistungen in Waren und in Profitquellen zu ermöglichen -
einschließlich derer, die für die Erfüllung von Grundrechten wie
Kultur und Bildung bestimmt sind. Man sieht, dass dies das Ende des Begriffs
«öffentlicher Dienst» und das Ende so entscheidender sozialer
Errungenschaften wie des freien Zugangs aller zu kostenloser Bildung und zu
Kultur im weitesten Sinne wäre (denn die Maßnahme soll - entgegen den
derzeit noch gültigen Klassifikationen - auch auf Dienstleistungen wie die
gesamten audiovisuellen Medien, Bibliotheken, Archive und Museen, botanische und
zoologische Gärten und alle Dienstleistungen im Bereich Unterhaltung,
Kunst, Theater, Radio und Fernsehen, Sport usw. angewandt werden). Ein solches
Programm, das nationale Politiken wie «Handelshemmnisse» behandelt,
wenn sie die kulturellen Besonderheiten ihrer Länder bewahren wollen und
deshalb der transnationalen Kulturindustrie einen Riegel vorschieben, kann
natürlich nur einen Effekt haben: nämlich den meisten Ländern,
besonders denen mit den geringsten ökonomischen und kulturellen Ressourcen,
jede Hoffnung auf eine Form von Entwicklung zu nehmen, die an ihre nationalen
und lokalen Besonderheiten angepasst ist und Vielfalt respektiert - im
kulturellen wie in allen anderen Bereichen. Dies geschieht insbesondere, indem
man ihnen vorschreibt, all ihre nationalen Maßnahmen - seien es interne
Regelungen, die Subventionierung von Einrichtungen und Institutionen oder die
Vergabe von Bewilligungen etc. - dem Verdikt einer Organisation zu unterwerfen,
die versucht, die Forderungen transnationaler Wirtschaftsmächte als
universelle Norm zu verkaufen.
Eine solche Politik, die es versteht,
die intellektuellen Ressourcen, die das Geld zu mobilisieren vermag, in den
Dienst ökonomischer Interessen zu stellen, wie im Fall dieser think tanks,
die sich aus diensteifrigen Denkern und Forschern, Journalisten und
Public-Relations-Spezialisten zusammensetzen, müsste eigentlich bewirken,
dass sämtliche Künstler, Schriftsteller und Wissenschaftler, denen die
autonome Forschung noch etwas wert ist, mit vereinten Kräften aktiv werden,
denn sie sind, auch wenn sie sich nicht immer vollständig darüber im
Klaren sind, die ausgemachten Opfer dieser Entwicklungen. Doch abgesehen davon,
dass sie nicht immer über die Mittel verfügen, um von diesen
Mechanismen und Handlungsweisen Kenntnis und Bewusstsein zu erlangen -
Handlungsweisen, die sich nur gegenseitig darin zu übertreffen versuchen,
die Welt zu zerstören, an die das Überleben dieser Künstler,
Schriftsteller und Wissenschaftler direkt geknüpft ist -, sind sie auch
schlecht auf eine solche Mobilisierung vorbereitet, was an ihrem geradezu
dumpfen und von höherer Stelle legitimierten Festhalten an ihrer Autonomie,
insbesondere gegenüber der Politik, liegt, denn das hindert sie daran, sich
politisch zu engagieren, und sei es nur, um ihre Autonomie zu verteidigen. Zwar
sind sie bereit, für universelle Anliegen aktiv zu werden, für die
Zolas Verhalten zugunsten von Dreyfus wohl für alle Zeiten paradigmatisch
sein wird, sich aber für Aktionen zu engagieren, bei denen es vor allem um
die Verteidigung ihrer ureigensten Interessen geht, dazu sind sie weniger
gewillt, weil ihnen solche Aktionen zu sehr von einer Art egoistischem
Korporatismus geprägt zu sein scheinen. Dabei vergessen sie jedoch, dass
sie durch die Verteidigung ihrer überlebensnotwendigen Interessen (zum
Beispiel durch Aktionen wie jene der französischen Filmemacher gegen das
MIR, das Multilaterale Investitionsabkommen) zugleich zur Verteidigung
universeller Werte beitragen, die man bedroht, indem man sie
bedroht.
Solche Aktionen sind selten und schwierig: Um für
Anliegen politisch zu mobilisieren, die über die korporativen Interessen
einer sozialen Kategorie, z.B. der Lastwagen- und Fernfahrer, hinausgehen, war
schon immer sehr viel Zeit und Mühe, manchmal auch Heldentum nötig (um
sich davon zu überzeugen, braucht man nur The Making of English Working
Class von E.P. Thompson zu lesen). Die «Zielscheiben» einer
politischen Mobilisierung sind heute extrem abstrakt und weit von den
Alltagserfahrungen der Bürgerinnen und Bürger - selbst der gebildeten
- entfernt: große multinationale Unternehmen und ihr internationales
Management, große internationale Organisationen wie die WHO, der IWF oder
die Weltbank mit ihren verschiedenen Unterabteilungen, die mit komplizierten und
oft unaussprechlichen Abkürzungen und Akronymen bezeichnet werden, und dann
all die dazugehörigen Realitäten, die Kommissionen und
nicht-gewählten Technokraten-Komités, die in der breiten
Öffentlichkeit kaum bekannt sind, kurz: diese ganze Weltregierung, die
innerhalb weniger Jahre aufgebaut wurde und ihre Macht auch auf die nationalen
Regierungen selbst ausübt, ist eine Instanz, die nur die wenigsten
wahrnehmen und kennen. Sozusagen ein unsichtbarer Big Brother, der bereits da
ist und sich mit untereinander vernetzten Dateien über alle
ökonomischen und kulturellen Einrichtungen ausgestattet hat, der handelt,
effizient ist und darüber entscheidet, was wir essen und nicht essen, lesen
und nicht lesen, im Fernsehen oder im Kino sehen und nicht sehen können,
während besonders inspirierte Denker glauben, das, was heute passiert,
liege auf derselben Linie wie die unwirklichen Spekulationen über
Pläne zur Errichtung eines universellen Staates, wie wir sie von den
Philosophen des 18. Jahrhunderts kennen.
Indem sie die Kontrolle
über die neuen Kommunikationsinstrumente nahezu vollständig in ihren
Händen haben, konzentrieren diese neuen Herren der Welt tendenziell alle
Macht - die ökonomische ebenso wie die kulturelle und symbolische - auf
sich und sind dadurch in der Lage, in großem Stil eine ihren Interessen
entsprechende Sicht der Welt durchzusetzen. Auch wenn diese großen
Kommunikationsunternehmen sicherlich nicht die eigentlichen Produzenten der
immer mehr überhand nehmenden und langsam aber sicher in alle Bereiche
vordringenden Doxa des Neoliberalismus sind und die Art und Weise, wie ihre
Unternehmensführungen in öffentlichen Erklärungen darüber
sprechen, nicht gerade zu den originellsten oder subtilsten gehört, tragen
sie doch in entscheidender Weise zur Verbreitung dieser Doxa bei, deren Rhetorik
man einmal im Detail analysieren sollte: logische Missgeburten wie normative
Feststellungen (in der Art von «die Wirtschaft globalisiert sich, wir
müssen unsere Wirtschaft globalisieren»; «die Dinge ändern
sich sehr schnell, wir müssen etwas verändern»); unzulässige
und ebenso energische wie falsche Schlussfolgerungen («dass sich der
Kapitalismus überall durchsetzt, liegt daran, dass er zutiefst in der Natur
des Menschen liegt»); unwiderlegbare Thesen («Indem wir Reichtum
schaffen, schaffen wir auch Arbeit»; «Zu hohe Steuern töten die
Steuern», eine Formel, die man aus der berühmt-berüchtigten
Laffer-Kurve ableiten könnte, für die aber ein anderer Ökonom,
Roger Guesnerie, den Beweis ihrer Unbeweisbarkeit erbracht hat - was soll man da
noch glauben?); Selbstverständlichkeiten, die so indiskutabel sind, dass
allein schon die Tatsache, sie zu diskutieren, eine Diskussion wert wäre
(«Der Wohlfahrtsstaat und die Arbeitsplatzsicherheit gehören der
Vergangenheit an» und «Wie kann man heute noch das Prinzip des
öffentlichen Dienstes verteidigen?»); teratologische Paralogismen (in
der Art «mehr Markt bedeutet mehr Gleichheit» oder «Egalitarismus
verurteilt Tausende von Menschen zum Elend»); technokratische Euphemismen
(«Unternehmensumstrukturierungen» statt Entlassungen) und viele
semantisch weitgehend im Unklaren bleibende Instant-Begriffe und -Redewendungen,
die, durch einen langen automatischen Gebrauch banalisiert und blank poliert,
wie Zauberformeln funktionieren und, um ihrer Beschwörungskraft willen,
unermüdlich wiederholt werden («Deregulierung», «freiwillige
Arbeitslosigkeit», «Freihandel», «freie
Kapitalzirkulation», «Wettbewerbsfähigkeit»,
«Kreativität», «technokratische Revolution»,
«Wirtschaftswachstum», «Kampf gegen die Inflation»,
«die Staatsverschuldung senken», «die Arbeitskosten
reduzieren», «die Sozialausgaben senken»). So setzt sich diese
Doxa durch einen ständigen Verhüllungseffekt durch und
präsentiert sich schließlich mit der ruhigen Kraft des
Selbstverständlichen. Diejenigen, die versuchen, dagegen Widerstand zu
leisten, können nicht einmal im Feld der kulturellen Produktion selbst auf
die strukturelle Solidarität etwa der Berichterstattung in den Medien
zählen, denn sie haben es dort mit Produktionen und Produzenten zu tun,
denen es einzig und allein um die umwegslose Zufriedenstellung eines
möglichst großen Publikums geht. Genauso wenig können sie mit der
Solidarität der «Medien-Intellektuellen» rechnen, denen es vor
allem um eine Form von Erfolg geht, die der Vergänglichkeit geweiht ist,
und die ihre Existenz ihrer Unterwerfung unter die Erwartungen des Marktes
verdanken. In einigen Extremfällen, die aber ganz besonders vielsagend
sind, vermarkten sie sogar die Idee der Avant-Garde, welche ihre Wurzeln doch
gerade im Widerstand gegen die Vermarktung hat. Das heißt, selbst die
autonomsten Produzenten werden Schritt für Schritt ihrer Produktions- und
vor allem auch Diffusionsmittel enteignet und ihre Position war zweifellos noch
nie so bedroht und so schwach, zugleich aber auch noch nie so selten, so
nützlich und so wertvoll.
Merkwürdigerweise bilden heute
jene Produzenten die Avantgarde im Kampf um die Verteidigung der höchsten
Werte der Menschheit, deren Produkte eigentlich zu den «abstraktesten»
und «reinsten» zählen und die der Logik des «LÆart pour
lÆart» gehorchen. Indem sie ihre eigene Einzigartigkeit verfechten,
verfechten sie die universellsten aller Werte.
Pierre Bourdieu
Collège de France, Chaire de sociologie
Paris, September
2K
Übersetzung: Daniela Böhmler und
Peter
Scheiffele
Text im RTF-Format:
Kultur in Gefahr.rtf