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EU-Verfassung und Weltmachtehrgeiz
in: MARXISTISCHE BLÄTTER 1-04 Georg
Polikeit
Der supranationale EU-Staat wird vor allem aus zwei
Gründen gebraucht: Erstens sollen damit die inneren wirtschaftlichen und
politischen Formierungsprozesse im erweiterten EU-Raum vorangetrieben und
gegen alle noch existierenden oder neu auflebenden Widerstände durchgesetzt
werden. Zweitens sollen damit die globalpolitischen Interessen der von der EU
aus operierenden Konzerne und Finanzkonglomerate weltweit verfochten und
stärker zur Geltung gebracht werden.
Das strategische Ziel der
EU für das laufende Jahrzehnt ist ihre Entwicklung zu einer
eigenständigen, zu globalem Handeln fähigen imperialistischer
Weltmacht neben und in Konkurrenz zu den USA – mindestens auf
«gleicher Augenhöhe», wie die in letzter Zeit von EU‑Oberen
gelegentlich formuliert wurde.
Die Differenzen um Einzelheiten der künftigen EU-Verfassung bei der
Brüsseler Ratstagung am 12./13. Dezember haben sich als hartnäckiger
erwiesen, als die Initiatoren gedacht hatten. Die beabsichtigte Verabschiedung
der Verfassung auf diesem EU‑«Gipfel» ist gescheitert.
Vorläufig. Das Vorhaben ist nur aufgeschoben.
Der Streit drehte
sich vorwiegend um institutionelle Fragen, um die Größe der
EU‑Kommission und die Stimmengewichtung bei
Mehrheitsentscheidungen im EU‑Ministerrat. Im Kern handelte es
sich dabei um Rivalitäten um die Machtverteilung innerhalb der EU
zwischen den Führungskreisen der 25 künftigen
EU‑Mitgliedstaaten und vor allem um Widerstände gegen eine
institutionalisierte Vormachtstellung der «Großen»,
besonders des deutsch-französischen
«Führungsduos».
Dies verweist darauf, dass die EU
trotz der in den letzten Jahrzehnten vorangetriebenen «Integration»
und trotz der internationalen Globalisierungsprozesse, trotz der
Dominanz mächtiger transnationaler Konzerne in der Wirtschaft aller
EU‑Staaten ein Gebilde ist, das neben beträchtlichen
Interessengemeinsamkeiten nach wie vor auch von stark widerstreitenden
Interessen geprägt wird. Was dabei als «nationalstaatliche»
Differenzen auftrat und dargestellt wurde, sind in
Wirklichkeit Differenzen innerhalb der herrschenden Klasse des kapitalistischen
Europa, zwischen unterschiedlichen Fraktionen und Clans einer
europäischen Bourgeoisie, die immer noch vorrangig nationalstaatliche
Strukturen zur Verfechtung ihrer jeweiligen, oft sehr widersprüchlichen
Klasseninteressen benutzt.
Im Hintergrund dürften allerdings
auch die trotz diverser Versöhnungsgesten fortbestehenden Differenzen
zwischen den EU-Führungsmächten und den Machthabern der USA gestanden
haben. Es fällt jedenfalls auf, dass die Regierungen Polens und Spaniens,
die als die Hauptopponenten gegen die vom deutsch-französische
Führungstandem geforderten institutionellen Neuregelungen auftraten,
auch zu den Anführern der «Koalition der Willigen» gehört
hatten, die beim Irak-Krieg an der Seite Washingtons stand.
Zu keinem
Zeitpunkt ging es bei dem Streit aber um die eigentlichen politischen Inhalte
und Grundfragen des vorgelegten Verfassungsentwurfs, nämlich um die
neoliberale Grundausrichtung und um ihre Orientierung auf imperialistische
Weltmachtziele. In diesen Punkten waren sich die «Streithähne»
von Brüssel völlig einig.
Im Augenblick ist fraglich, ob es
schon unter dem Vorsitz Irlands im ersten Halbjahr 2004 zu einer neue
Verhandlungsrunde kommt – oder erst im Herbst unter niederländischem
Vorsitz, nach der Neuwahl des EU‑Parlaments und der anschließenden
Neubesetzung der EU‑Kommission und ihres Chefpostens. Mit Sicherheit wird
es aber einen neuen Anlauf geben. Die wirtschaftlichen und politischen
Interessen am institutionellen Ausbau der auf 25 Staaten erweiterten EU sind zu
stark, als dass auf Dauer auf eine Stärkung der Macht- und
Regulierungsbefugnisse der zentralen EU‑Instanzen verzichtet werden
könnte.
In der Zwischenzeit drohen die Führungsmächte
den Widerstrebenden mit der Finanzkeule: mit einer empfindlichen Begrenzung der
Mittel, die gerade die neuen ost- und südosteuropäischen
Staaten, aber auch Spanien, Portugal und andere, aus den EU‑Töpfen
erwarten. Parallel dazu wird die Bildung von enger integrierten
«Pioniergruppen» eines kleineren «Kerneuropa» an die Wand
gemalt und ein «Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten» in
Aussicht gestellt, bei dem die nicht beteiligten Staaten benachteiligt
wären.
Trotz der aktuellen Gemengelage ist es also angebracht,
sich weiter mit den Inhalten der geplanten EU‑Verfassung und den damit
zusammenhängenden Zielen zu befassen – nicht zuletzt auch
angesichts des anstehenden EU‑Wahlkampfs, in dem die
Verfassung ein aktuelles Thema bleiben dürfte.
Warum
«Verfassung»?
Es gab und gibt zum Grundcharakter
der neuen EU‑Verfassung sehr unterschiedliche Deutungen, auch unter denen,
die sich zu den Linken zählen. Manche meinten, sie als Fortschritt zu mehr
Demokratie und als «Bruch mit der einseitig neoliberalen Orientierung
der alten EU‑Verträge» interpretieren zu können
(1).
Solche Ansichten können aber nur auf einer
Verwechslung der schönen Worte, die üblicherweise in Verfassungen
kapitalistischer Staaten auf dem Papier stehen, mit der Realität beruhen.
Fragen wir nach den Intentionen der Hauptakteure, ergeben sich ganz andere
Schlussfolgerungen.
Warum haben die Initiatoren überhaupt den
Begriff «Verfassung» gewählt? Warum wurde der neue Vertragstext
nicht einfach «Vertrag» genannt?
Die Erfinder haben den
Begriff «Verfassung» nicht ohne Überlegung verwendet.
Verfassungen sind Urkunden einer Staatsgründung. Und genau darum geht es
ihnen. Sie wollen nicht nur de facto den Aufbau eines supranationalen
Staatgebildes auf europäischer Ebene, der schon seit längerem im Gang
ist, weiter vorantreiben, sondern diese Staatsgründung jetzt auch de jure
als solche kennzeichnen und stärker in das Bewusstsein der
Öffentlichkeit rücken. Die Menschen sollen daran gewöhnt werden,
dass auf EU‑Ebene eine neue Staatsstruktur installiert wird, der die
bislang souveränen Nationalstaaten untergeordnet werden, ähnlich wie
die Bundesstaaten der USA oder die Bundesländer der BRD ihren jeweiligen
Zentralinstanzen.
Nicht umsonst lautet Artikel I‑10 des
Verfassungsentwurfs: «Die Verfassung und das von den Organen der
Union in Ausübung der ihnen zugewiesenen Zuständigkeiten gesetzte
Recht haben Vorrang vor dem Recht der Mitgliedstaaten.»
(2)
Das ganze Vertragswerk trägt übrigens offiziell
den Titel «Vertrag über eine Verfassung für
Europa» (Hervorh. G.P.). Genau genommen erhebt der Titel damit
sogar einen Geltungsanspruch über die Grenzen der heutigen EU
hinaus.
Wir stehen also vor dem Geburtsakt eines europäischen
Superstaates mit klassischen Staatsfunktionen nach innen und außen. Das
gilt in meinen Augen auch dann, wenn diese Staatsgründung in mancher
Hinsicht noch am Anfang steht und einige wichtige klassische Staatsbefugnisse
dem neuen EU‑Staat noch nicht oder nur eingeschränkt übertragen
werden. Beispielsweise fehlt ihm noch das Recht auf die Erhebung eigener
Steuern. Aber das kann später ja noch geändert
werden.
Ab wann ist ein Staat ein Staat?
Es
gibt den Einwand, dass diese Beurteilung den Staatscharakter der EU
überzeichne. Die Bezeichnung «Verfassung» sei eine Mogelpackung,
weil es keine demokratisch gewählte verfassungsgebende Versammlung
gab. Es handle sich in Wahrheit um einen Vertrag zwischen Nationalstaaten, bei
denen immer noch der eigentliche Machtschwerpunkt liege, höchstens um
einen Staatenbund, nicht um einen Bundesstaat.
Nun ist es sicher
angebracht, auf demokratische Legitimationsdefizite beim Zustandekommen dieser
«Verfassung» hinzuweisen. Das hat die EU-Verfassung dann mit dem
Grundgesetz der BRD gemeinsam. Das ist ja auch nicht von einer dafür
gewählten verfassungsgebenden Versammlung erarbeitet worden, sondern kam
auf Befehl der westlichen Besatzungsmächte in ähnlicher Weise
wie der EU‑Verfassungsentwurf durch einen «Konvent»
im bayerischen Herrenchiemsee zustande.
Die Kritik am demokratischen
Defizit wird die Mächtigen in der EU allerdings nicht daran hindern, diesem
Text, wenn er schließlich verabschiedet wird, dennoch Verfassungsrang
zuzuschreiben und ihn in der Praxis auch so zu handhaben, wo immer es ihnen in
den Kram passt.
Ab wann ist eine politische Struktur ein Staat? Wohl
nicht erst, wenn es sich um einen «Verfassungsstaat»
handelt. Staaten gab es schon in der Antike und im Mittelalter. Staatliche
Gewalt wurde auch im früheren deutschen Kaiserreich oder unter der
faschistischen Diktatur ausgeübt. Die Qualifikation als «Staat»
kann also nicht an die Einhaltung bestimmter demokratischer Normen und
Spielregeln gebunden werden.
Unbestreitbar erscheint mir jedenfalls,
dass mit der EU‑Verfassung reale politische Macht- und
Entscheidungsbefugnisse von den Nationalstaaten auf die zentralen
EU‑Instanzen übertragen und in verfassungsrechtlicher Form fixiert
werden – und das ist auch der Zweck des Unternehmens.
Immerhin
wird es nach dem Wortlaut des Verfassungsentwurfs künftig Bereiche
mit «ausschließlicher Zuständigkeit» der EU geben (Artikel
I‑11), in denen allein die EU-Instanzen zu entscheiden haben. Dazu
gehört laut Artikel I‑12 u. a. die «Festlegung der
für das Funktionieren des Binnenmarkts erforderlichen
Wettbewerbsregeln». Dabei geht es um Grundfragen der
Wirtschaftsordnung.
Unter Berufung auf die Regulierung des
Binnenmarkts sind schon in der Vergangenheit zahlreiche EU-Direktiven erlassen
worden, die etwa die Beseitigung der sogenannten
«Staatsmonopole» und damit europaweit die Privatisierung
öffentlicher Unternehmen und Dienstleistungen (Telekommunikation, Post,
Luftverkehr, Eisenbahn, Strom, Gas, Wasser) vorangetrieben haben. Das
waren tiefgehende Eingriffe in die nach dem 2. Weltkrieg in vielen
europäischen Staaten entstandenen Sozialstaatsstrukturen, die
teilweise beachtliche Sektoren von öffentlichem Eigentum
aufwiesen.
Ferner fallen unter die «ausschließliche
Zuständigkeit» der EU die Währungspolitik, die gemeinsame
Handels- und Zollpolitik und insbesondere alle Fragen der «gemeinsamen
Außen- und Sicherheitspolitik» einschließlich der damit
verknüpften Militärpolitik (Artikel I‑15). Die Mitgliedstaaten
können zwar weiterhin auch eigenständig außenpolitisch handeln,
sind aber laut Artikel I‑15,2 ausdrücklich verpflichtet, festgelegte
außenpolitische Leitlinien der EU «aktiv und vorbehaltlos» zu
unterstützen und sich jeder Handlung zu enthalten, «die den Interessen
der Union zuwiderläuft oder ihrer Wirksamkeit schaden könnte».
Das heißt, die außenpolitischen Grundentscheidungen treffen die
EU-Instanzen, wofür ja auch das neue Amt des EU‑Außenministers
geschaffen wird.
Ein europäisches Korsett für viele
Bereiche
Aber auch in den Bereichen, die in der Verfassung
als «Bereiche mit geteilter Zuständigkeit» aufgeführt
werden, haben die Mitgliedstaaten laut Artikel I‑11,2 nur ein
Entscheidungsrecht, «sofern und soweit die Union ihre
Zuständigkeit nicht ausgeübt hat». Auch hier haben also
EU‑Entscheidungen Vorrang. Das betrifft u. a. die Zusammenarbeit von
Polizei und Justiz einschließlich des Einwanderungs- und Asylrechts und der
Grenzkontrollen, ferner die Landwirtschaft, das Verkehrswesen, die
«transeuropäischen Netze», die Energiewirtschaft, bestimmte
Bereiche der Sozialpolitik, Regionalpolitik, Umweltpolitik, gemeinsame
Maßnahmen und Programme in Sachen Forschung, technologische
Entwicklung und Raumfahrt u. v. m.
In allen diesen Bereichen
können die EU-Gremien in Zukunft ein Korsett von «Europäischen
Gesetzen», «Europäischen Rahmengesetzen»,
«Europäischen Verordnungen», «Europäischen
Beschlüssen» und anderen Rechtsakten erlassen, denen die nationalen
Entscheidungsbefugnisse der Mitgliedstaaten nur noch nachgeordnet
sind.
Hinzu kommt das Instrument der «offenen
Koordinierung» (Artikel I‑16 und detaillierte Bestimmungen dazu in
Teil III der Verfassung). Hier werden die EU‑Instanzen gegenüber den
Mitgliedstaaten «koordinierend» aktiv, indem sie bestimmte Vorgaben
und Richtlinien beschließen, deren Einhaltung dann von den
Mitgliedstaaten verlangt wird.
Als Beispiel hierfür kann das im
Oktober 2003 von der EU‑Ratstagung in Brüssel beschlossene
«Koordinierungsziel» gelten, wonach in allen EU‑
Mitgliedstaaten eine generelle Anhebung des «tatsächlichen
Durchschnittsalters bei Beendigung des Arbeitslebens» um fünf Jahre
«anzustreben» ist. Zur Durchsetzung dieses Ziels ist die
regelmäßige Kontrolle der Umsetzung in den Mitgliedstaaten durch die
EU mit «Berichten» an die Ratstagungen und jeweilige neue
«operative Schlussfolgerungen» vorgesehen (3). Es handelt
sich also keineswegs nur um unverbindliche
Empfehlungen.
Konzentration und Zentralisierung politischer
Macht
Die skizzierte
«Kompetenzverteilung» in der EU‑ Verfassung zeigt,
dass die Macht- und Entscheidungsbefugnisse der EU-Instanzen
weitreichend sind und gegenüber dem bisherigen Stand auch erweitert werden.
Unter diesem Gesichtspunkt scheint mir die Frage, ob die EU in den nächsten
Jahren eher noch ein «Staatenbund» oder schon mehr ein
«Bundesstaat» sein wird, von untergeordneter Bedeutung. Es findet ein
Prozess der Konzentration und Zentralisierung politischer Macht in zentralen
EU‑Institutionen statt.
Die Verlagerung von wichtigen
Entscheidungen von der Ebene der Nationalstaaten auf eine noch weiter vom
Bürger entfernte supranationale Staatsebene bedeutet aber de facto eine
weitere Entmündigung der Bürger. Für demokratische
Basisbewegungen einschließlich der Organisationen der Arbeiterbewegung
werden die Kampfbedingungen damit verschlechtert. Die nationalstaatlichen
Regierungen erhalten mit dem Verweis auf EU‑Vorgaben, denen man sich
«anpassen» müsse, ein zusätzliches Rechtfertigungsargument.
Sollte irgendeine Regierung aufgrund spezieller innerpolitischer
Kräfteverhältnisse «aus der Reihe tanzen», drohen ihr
erhebliche politische und finanzielle Sanktionen. Aufgrund der ökonomischen
Verflechtungen wäre ein Ausscheiden aus diesem Zwangskorsett nicht ohne
schwerwiegende Nachteile möglich.
Doch Staaten haben bekanntlich
Klassencharakter. Sie sind nicht neutrale Vermittler, sondern in erster
Linie Machtinstrument zur Durchsetzung der Interessen der jeweils herrschenden
Klasse. Welchen Klassencharakter hat also das mit der EU‑Verfassung
festgeschriebene Staatsgebilde?
Die ökonomische Basis der EU
sind kapitalistische Produktionsverhältnisse. Und zwar
Produktionsverhältnisse im monopolistischen Stadium des Kapitalismus, also
im Stadium des Imperialismus. Der EU‑Staat ist somit ein imperialistischer
Staat, ein Staat des in Europa akkumulierten und von Europa aus global
agierenden Finanzkapitals. An diesen realpolitischen Klassen- und
Machtverhältnissen ändert sich mit der EU‑ Verfassung
nichts.
Wie steht es um die
Grundrechte?
Manchmal wird eingewandt, dass zwar die
existierenden Machtverhältnisse nicht geändert werden, die
EU‑Verfassung aber immerhin in der Präambel, im Kapitel über
Werte und Ziele und in der «Charta der Grundrechte» eine Reihe von
demokratischen Grundwerten und Rechten festschreibe.
Nun klingen
einige Formulierungen in diesen Kapiteln tatsächlich humanistisch,
friedensorientiert und für eine bürgerlich-demokratische Verfassung
sogar relativ fortschrittlich.
Beispielsweise das Verbot der
Todesstrafe (Art. II-2) oder das Verbot des Klonens von Menschen (Art. II-3
– nicht verboten wird allerdings das Klonen von Tieren und Pflanzen; da
siegte wohl das kommerzielle Verwertungsinteresse über die Ethik). Auch das
Recht auf Wehrdienstverweigerung (Art. II‑10,2) und das Verbot der
Diskriminierung von Menschen wegen Geschlecht, Hautfarbe, ethnischer oder
sozialer Herkunft, Sprache, Religion oder Weltanschauung sowie sexueller
Orientierung (Art. II‑21) sind hier zu nennen.
Erwähnt
wird im Verfassungsentwurf auch das Recht auf Gründung von Gewerkschaften
und sogar das «Streikrecht». Letzteres allerdings ausdrücklich
einschränkt auf soziale Interessenkonflikte, kein generelles Streikrecht
auch in politischen Fragen. Und Erwähnung findet es nur in direkter
Verbindung mit einer Formulierung im gleichen Halbsatz, die den Unternehmern ein
«Recht auf Aussperrung» zubilligt. Wörtlich heißt es in Art.
II‑28 nämlich, dass sowohl «Arbeitnehmern» wie
«Arbeitgebern» das Recht zusteht, «bei Interessenkonflikten
kollektive Maßnahmen zur Verteidigung ihrer Interessen,
einschließlich Streiks, zu ergreifen».
In den meisten
Punkten geht der Verfassungsentwurf jedoch nicht über die üblichen
Grundrechtskataloge bürgerlicher Verfassungen hinaus. Entscheidende
soziale Rechte wie das Recht auf Arbeit, das Recht auf Wohnung, das Recht auf
soziale Grundsicherung und auf ein existenzsicherndes Minimaleinkommen
fehlen.
Statt dessen gibt es eine ganze Reihe Passagen mit
ausgesprochenen juristischen Fußangeln. Anstelle eines Rechts auf Arbeit
wird beispielsweise verkündet, dass jeder Mensch «das Recht, zu
arbeiten» habe (Art. II‑15,1). Das klingt fast wie «Recht auf
Arbeit», hat aber tatsächlich mit einem garantierten Recht auf einen
Arbeitsplatz nichts zu tun. Wohl aber könnte die Formulierung auch dahin
interpretiert werden, dass beispielsweise im Fall eines Streiks
Streikbrecher an ihrem «Recht, zu arbeiten» nicht gehindert werden
dürfen.
Neoliberaler Kapitalismus als
Verfassungsprinzip
Im Gegensatz zu dem Defizit an sozialen
Grundrechten werden jedoch die «unternehmerische Freiheit» und das
«Recht auf Eigentum» einschließlich seiner Vererbung in den Rang
eines allgemeingültigen «Unionsrechts» erhoben (Art. II‑16,
II‑17). Im Grundgesetz der BRD heißt es noch, dass Eigentum
grundsätzlich dem «Wohl der Allgemeinheit» verpflichtet sei und
«zum Zwecke der Vergesellschaftung» in Gemeineigentum
überführt werden kann (Art. 14 u. 15 GG). Der
EU‑Verfassungsentwurf bleibt weit dahinter zurück.
Eingriffe in das Eigentum sind nach Art. II-17 nur als seltene Ausnahmen
zulässig, und von einer «sozialen Verpflichtung» des Eigentums,
von «Gemeineigentum» oder «Vergesellschaftung» auch nur als
Möglichkeit steht in der EU‑Verfassung kein Wort.
Statt
dessen gibt es an mehreren Stellen die ausdrückliche Festlegung auf eine
Wirtschaftsordnung, die an einer Stelle als «wettbewerbsfähige soziale
Marktwirtschaft» (Art. I‑3,3), an mehreren anderen Stellen als
«offene Marktwirtschaft mit freiem und unverfälschtem Wettbewerb»
ohne das Beiwort «sozial» (z. B. Art. III‑69, Art. III‑70.
Art. III‑77) definiert wird. Es entspricht also einfach nicht den
Tatsachen, dass von der neoliberalen Grundorientierung der alten
EU‑Verträge abgegangen worden sei. Sie wurde im Verfassungstext
erneut festgeschrieben. Auch das ist gegenüber dem Grundgesetz der BRD, das
eine ausdrückliche Festlegung auf eine bestimmte Wirtschaftsordnung nicht
enthält, ein klarer Rückschritt.
Praktisch könnten
solche Formulierungen bei Bedarf durchaus zu einem generellen Verbot für
jede andere Wirtschaftsordnung, etwa eine vorrangig auf vergesellschaftetem
Gemeineigentum beruhende, erklärt werden. Wer die juristischen
Formulierungskünste des KPD‑Verbotsurteils und der früheren
Berufsverbotsurteile der BRD noch in Erinnerung hat, weiß, dass
«staatstreue» Juristen daraus auch ein generelles Sozialismus-Verbot
ableiten könnten.
Ein grundlegender, kennzeichnender Mangel des
Verfassungsentwurfs ist das Fehlen eines positiven Bezugs auf den gemeinsamen
Kampf der europäischen Völker gegen den Faschismus. Angesichts der
zahlreichen sonstigen «Grundwerte», die in dem Text erwähnt
werden, fällt das Fehlen eines Bezugs auf den durch die gemeinsame
historische Erfahrung der europäischen Völker begründeten und
auch heute hochaktuellen Grundwert des Antifaschismus besonders auf. Aber
natürlich: wer mit den italienischen Neofaschisten in der
Berlusconi-Regierung, mit Haider und Co. Europa regieren will, kann auf eine
solche Idee nicht kommen.
Verwiesen werden muss auch darauf, dass
bisher fast nur die Teile I und II des EU‑Verfassungsentwurfs
in der öffentlichen Diskussion standen – soweit dabei von
Öffentlichkeit überhaupt die Rede sein kann. Der Verfassungsvertrag
besteht aber neben diesen beiden Teilen aus einem erst viel später
zugänglich gemachten Teil III, der dem Umfang nach fast dreimal so lang
ist. Dieser Teil III enthält sozusagen das «Kleingedruckte», die
«Ausführungsbestimmungen». Und darin sind nahezu alle
Bestimmungen der früheren EU-Verträge eins zu eins in die neue
EU‑Verfassung übernommen. Auch daraus ergibt sich, dass mit dem
Verfassungsvertrag nichts an der bisherigen neoliberalen Orientierung der EU
geändert wird.
Hinzu kommt, dass natürlich wie bei allen
Verfassungen unter kapitalistischen Verhältnissen zu fragen ist, was die
aufgeführten «demokratischen Grundrechte» und
«Grundwerte» in der Praxis wert sind. Sozialisten und Kommunisten,
Demokraten und Teilnehmer an Friedensaktionen haben da in den vergangenen
Jahrzehnten ja reiche Erfahrung sammeln können. Die Kluft zwischen
Verfassungstext und Verfassungswirklichkeit ist ein Merkmal jedes
bürgerlichen Staates.
Ich bin nicht für
verfassungspolitischen Nihilismus. Verfassungsrechte können unter
kapitalistischen Verhältnissen als stützende Ausgangspunkte für
soziale und politische Bewegungen eine nützliche Sache sein. Aber für
sich allein, ohne gleichzeitige Orientierung auf entschiedenen
außerparlamentarischen Kampf, sind sie nur der schöne Schein, der die
wahren Verhältnisse verschleiern soll.
Militärmacht
mit globalpolitischen Zielen
Zu den besonders negativen
Aspekten des EU‑Verfassungsentwurfs gehören die Festlegungen
zur Militärpolitik. Im Rahmen dieses Beitrags können nur die
Hauptpunkte knapp zusammengefasst werden (4):
•
Die EU macht den Mitgliedstaaten mit dieser Verfassung nicht nur eine
«gemeinsame Außenpolitik», sondern auch eine «gemeinsame
Sicherheits- und Verteidigungspolitik» zur verfassungsmäßigen
Pflicht (Art. I‑40). «Bestimmten Mitgliedstaaten» wird zwar ein
Sonderstatus zugestanden. Für alle übrigen aber gilt die Verpflichtung
zum Mitmachen.
• In Artikel I‑40, Absatz 1, werden
ausdrücklich militärische «Missionen außerhalb der
Union» für verfassungsmäßig zulässig erklärt.
Dies steht im Widerspruch zum Verbot der Führung von Angriffskriegen, das
noch immer in Artikel 26 des deutschen Grundgesetzes steht, und auch zum
grundsätzlichen Gewaltverbot der UNO.
• Die
Entscheidung über EU‑Militäreinsätze liegt laut Art.
I‑40, Abs. 4 allein beim Europäischen Rat, also dem Gremium der
Staats- und Regierungschefs. Eine Bindung an eine vorherige parlamentarische
Zustimmung, etwa des EU‑Parlaments, ist nicht vorgesehen. Dazu heißt
es in Absatz 8 von Art. I‑40 lediglich: «Das Europäische
Parlament wird zu den wichtigsten Aspekten und den grundlegenden
Weichenstellungen der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik
regelmäßig gehört und über ihre Entwicklung auf dem
Laufenden gehalten».
Verfassungspflicht zur
Hochrüstung
Die Mitgliedstaaten werden in Art.
I‑40, Abs. 3, ausdrücklich verpflichtet, «ihre
militärischen Fähigkeiten schrittweise zu verbessern». Das ist
eine verfassungsmäßig festgeschriebene Pflicht zur ständigen
Hochrüstung. Hierzu wird die Einrichtung eines «Europäisches Amt
für Rüstung, Forschung und militärische Fähigkeiten»
vorgesehen, das gleichfalls Verfassungsrang erhält. Ein Vorläufer
dieses Amtes unter dem Namen «Europäische Verteidigungsagentur»
soll laut einem Beschluss der EU‑Verteidigungsminister vom 17.11.2003
bereits «vor dem Sommer 2004» die Arbeit aufnehmen. Es hat laut
Pressemitteilung des EU‑ Generalsekretariats (5) u. a. die Aufgabe,
«künftige Anforderungen an EU‑Fähigkeiten» zu
«identifizieren», die Verpflichtungen der Mitgliedstaaten zur
Bereitstellung bestimmter Fähigkeiten zu
«überprüfen» und die «Harmonisierung der
militärischen Ausrüstungen» zu
fördern.
• Der Verfassungsvertrag gestattet den
Einsatz von EU‑Streitkräften auch im Inneren, innerhalb einzelner
Mitgliedstaaten. Unter der irreführenden Bezeichnung
«Solidaritätsklausel» heißt es da (Art. I-42), dass die EU
«alle ihr zur Verfügung stehenden Mittel einschließlich der
ihr von den Mitgliedstaaten bereitgestellten militärischen Mittel»
(Hervorh. G.P.) mobilisiert, um «terroristische Bedrohungen im
Hoheitsgebiet von Mitgliedstaaten abzuwenden» und im Fall eines
Terroranschlags einen Mitgliedstaat «innerhalb seines Hoheitsgebiets zu
unterstützen».
• Durch Artikel I‑40, Abs.
6 u. 7, sowie Art. III-213 wird eine engere «strukturierte
Zusammenarbeit» einer kleineren Gruppe von EU‑Staaten im
Militär- und Rüstungsbereich für zulässig erklärt,
«die anspruchsvollere Kriterien in Bezug auf die militärischen
Fähigkeiten erfüllen und im Hinblick auf Missionen mit höchsten
Anforderungen festere Verpflichtungen in diesem Bereich eingehen
wollen». Mit anderen Worten wird hier die Schaffung eines
«harten Kerns» hochgerüsteter EU‑ Staaten vorgesehen, die
zur Durchführung eigenständiger EU‑Kriegseinsätze in aller
Welt bereit sind, auch wenn die restlichen Mitgliedstaaten nicht
mitmachen.
Das Solanapapier – Militärdoktrin mit
Weltmachtanspruch
Ihre Ergänzung finden diese
Verfassungsbestimmungen in einer EU-«Sicherheitsdoktrin», die
auf der Ratstagung am 12./13. Dezember in Brüssel aufgrund eines im
Juni 2003 vorgelegten Entwurfs von EU‑Generalsekretär Solana
endgültig verabschiedet worden ist – übrigens ganz unbehindert
von den «unüberbrückbaren Differenzen» auf der gleichen
Tagung in Sachen Verfassung.
Der Kern dieses EU-Dokuments unter dem
schönen Titel «Ein sicheres Europa in einer besseren Welt» ist
die umfassende Begründung weltweiter Militäreinsätze unter
EU‑eigener Führung. In Verbindung damit wurde auch die Einrichtung
einer «militärischen Planungszelle» zur operativen Führung
von «autonomen» EU-Einsätzen ab dem Frühjahr 2004
beschlossen. Wenige Tage zuvor war noch der Begriff «EU-Hauptquartier»
benutzt worden. Nach heftigen Einwänden aus den USA war das Vorhaben zu
einer «Planungszelle» beim bestehenden EU-Militärstab in
Brüssel herabgestuft und durch eine «ständige EU-Vertretung»
beim NATO-Hauptquartier SHAPE ergänzt worden.
Das Solana-Papier
(6) geht davon aus, dass seit dem «Ende des kalten Krieges»
zwar die USA der «dominierende militärische Akteur» waren,
nunmehr aber kein Land mehr in der Lage sei, «die komplexen Probleme
der heutigen Zeit im Alleingang zu lösen». Als «Zusammenschluss
von 25 Staaten mit über 450 Millionen Einwohnern, die ein Viertel des
Bruttosozialprodukts (BSP) weltweit erwirtschaften», müsse auch die EU
«zwangsläufig ein globaler Akteur» sein.
Es folgt eine
umfangreiche Argumentation über «neue Bedrohungen» durch globalen
«Terrorismus», Weiterverbreitung von Atomwaffen, regionale Konflikte
und «gescheiterte Staaten». Die entscheidende Schlussfolgerung
lautet: «Unser herkömmliches Konzept der Selbstverteidigung, das bis
zum Ende des Kalten Krieges galt, ging von der Gefahr einer Invasion aus. Bei
den neuen Bedrohungen wird die erste Verteidigungslinie oftmals im Ausland
liegen» (Hervorh. G.P.). Konsequenz: «Wir müssen eine
Strategie-Kultur entwickeln, die ein frühzeitiges, rasches und wenn
nötig robustes (!) Eingreifen fördert». Als eine Union mit 25
Mitgliedern, «die insgesamt 160 Milliarden Euro für die Verteidigung
aufwendet», müsse die EU in der Lage sein, «mehrere Operationen
gleichzeitig (!) durchführen zu
können».
Selbstverständlich geht das nicht ohne Geld:
«Damit wir unsere Streitkräfte zu flexibleren, mobilen
Einsatzkräften umgestalten und sie in die Lage versetzen können, sich
den neuen Bedrohungen zu stellen, müssen die Mittel für die
Verteidigung aufgestockt und effektiver genutzt
werden.»
Der Zusammenhang
Es ergibt
sich die Frage: Warum soll der supranationale EU‑Staat mit der in einer
«Verfassung» festgeschriebenen Machtzentralisierung nach innen und der
skizzierten globalpolitischen Zielsetzung nach außen jetzt geschaffen
werden?
Die Antwort findet sich meiner Meinung nach in den
veränderten weltwirtschaftlichen und weltpolitischen Bedingungen, die sich
im Rahmen der «Globalisierung» etwa seit Mitte der 80er Jahre und nach
der Liquidierung der sozialistischen Staaten Europas 1989/90 in der Welt
vollzogen haben. Zunehmende ökonomische Integration der EU-Staaten,
Einführung des Euro, Osterweiterung, Ausbau der EU‑Staatlichkeit und
Schaffung eigenständiger EU‑Interventionsstreitkräfte haben
einen inneren Zusammenhang. Die ökonomische Basis, die mit dem
Europäischen Binnenmarkt und dem Euro geschaffen wurde und durch die
Osterweiterung um ein großes abhängiges Randgebiet erweitert wird,
braucht nun auch einen fester strukturierten politischen
Überbau.
Der supranationale EU-Staat wird vor allem aus zwei
Gründen gebraucht: Erstens sollen damit die inneren wirtschaftlichen und
politischen Formierungsprozesse im erweiterten EU-Raum vorangetrieben und
gegen alle noch existierenden oder neu auflebenden Widerstände durchgesetzt
werden. Zweitens sollen damit die globalpolitischen Interessen der von der EU
aus operierenden Konzerne und Finanzkonglomerate weltweit verfochten und
stärker zur Geltung gebracht werden.
Das strategische Ziel der
EU für das laufende Jahrzehnt ist ihre Entwicklung zu einer
eigenständigen, zu globalem Handeln fähigen imperialistischer
Weltmacht neben und in Konkurrenz zu den USA – mindestens auf
«gleicher Augenhöhe», wie die in letzter Zeit von EU‑Oberen
gelegentlich formuliert wurde.
1 Wie beispielsweise
Sylvia-Yvonne Kaufmann, EU-Abgeordnete der PDS und Teilnehmerin am
«Europäischen Verfassungskonvent», in einer Gastkolumne am
21.6.2003 im Neuen Deutschland. 2 Dieses und alle
nachfolgenden Zitate aus dem Verfassungstext nach
«Entwurf Vertrag über eine Verfassung für Europa»,
herausgegeben vom Amt für amtliche Veröffentlichungen der
Europäischen Gemeinschaften, 2003, ISBN 92-78-40195-1. 3
«Schlussfolgerungen des Vorsitzes Europäischer Rat (Brüssel) 16.
und 17. Oktober 2003», Press Release Brussels (17/10/2003), Punkt 22,
(http://ue.eu.int/newsroom/NewMain.asp?LANG=1); siehe auch UZ – unsere
zeit, Nr. 46/2003 v. 14.11.2003 4 Verwiesen sei hier auf die
ausführliche Darstellung «Militärmacht Europa – Die EU auf
dem Weg zur globalen Interventionsmacht» von Arno Neuber, isw-report 56,
Dezember 2003, herausgegeben von isw – Institut für
sozial-ökologische Wirtschaftsforschung e.V., München, in
Zusammenarbeit mit der Informationsstelle Militarisierung, IMI e.V.
5 Siehe «Summary of the interventions by Javier Solana, EU High
Representative for CFSP, on Defence matters, Brussels, 17. November 2003, Press
Release SO234/03, Annex I, http://ue.eu.int/solana. 6 Alle
nachfolgenden Zitate aus «Ein sicheres Europa in einer besseren Welt
– Europäische Sicherheitsstrategie – Brüssel,
12. Dezember 2003»,
http://ue.eu.int/solana/docs/031208ESIIDE.pdf.
Posted: Mi - Mai 26, 2004 at 11:54 vorm.
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