URL: http://www.imi-online.de/2002.php3?id=711
Datum: 12.11.2003
IMI-Analyse 2003/036 - in: IMI-List 0175
Eine
Militärverfassung für die Europäische Union -
Oder
auch die EU ist auf
Kriegskurs.http://imi-online.de/download/IMI-Analyse-2003-036-EU-Verfass-Pflueger.pdf
1. Einleitung
Nach längerer Arbeit hat der
sogenannte Konvent einen Entwurf für eine EU-Verfassung vorgelegt, der 260
Seiten umfasst und in vier Abschnitte aufgeteilt ist. Zum Verfassungsentwurf
hinzu kommen noch verschiedene Teile eines Anhangs mit Zusatzvereinbarungen, die
ebenfalls Verfassungsrang erhalten. Der EU-Verfassungsentwurf findet sich in
seiner Fassung vom 20.08.2003 hier:
http://www.imi-online.de/download/EU-Verfassungsentwurf.pdf
2. Zum
Stellenwert der Militärpolitik im EU-Verfassungsentwurf
Die so
genannte "Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik" (GASP) und die
"gemeinsame Verteidigungspolitik" nehmen einen großen und zentralen Raum im
Verfassungsentwurf ein. Die Regelungen insbesondere für die
Militärpolitik sind regelrecht konkretistisch und sehr detailreich. Die
EU-Kommission schreibt dazu selbst: "Schließlich ist der Verfassungsentwurf
- durch die Ersetzung aller Bestimmungen der aktuellen Verträge und
insbesondere die Neufassung der Bestimmungen hinsichtlich des
außenpolitischen Handels und des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des
Rechts sowie durch die vollständige Übernahme aller Bestimmungen zu
den einzelnen Politikbereichen - zwangsläufig lang und relativ detailliert
geworden." (Stellungnahme der Kommission gemäß Artikel 48 des
Vertrages über die Europäische Union zum Zusammentritt einer Konferenz
von Vertretern der Regierungen der Mitgliedstaaten im Hinblick auf eine
Änderung der Verträge vom 17.09.2003.) Der Stellenwert der Außen-
und Militärpolitik wird von der EU-Kommission dort wie folgt beschrieben:
"Der Konvent hat die Bestimmungen zum außenpolitischen Handeln der Union
und zum Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts im Detail untersucht.
Er hat Entwürfe für Artikel vorgelegt, die de facto eine völlige
Neufassung darstellen. Bei den übrigen Politikbereichen hat sich der
Konvent darauf beschränkt, die Bestimmungen im aktuellen EG-Vertrag mit
einigen punktuellen Änderungen zu übernehmen." Der Inhalt des
EU-Verfassungsentwurfs wird an gleicher Stelle folgendermaßen beschrieben:
"... die Bestimmungen zur Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik werden
neu gefasst; die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik wird ausgebaut
und den Mitgliedstaaten, die dies wünschen, die Möglichkeit
eingeräumt, ihre Handlungskapazitäten in einem gemeinsamen Rahmen zu
erweitern."
3. Integration in die EU durch gemeinsame
Militärpolitik?! - Loyalität der Einzelstaaten gegenüber der
EU-Militärpolitik?!
Im Verfassungsentwurf wird explizit
erklärt: "Die Union ist dafür zuständig, eine gemeinsame
Außen- und Sicherheitspolitik einschließlich der schrittweisen
Festlegung einer gemeinsamen Verteidigungspolitik zu erarbeiten und zu
verwirklichen." (Artikel I-11, Absatz 4 des EU-Verfassungsentwurfs, ähnlich
und fast wortgleich in Artikel I-15, Absatz 1). Der Schritt, der dazu gemacht
werden muss, steht in Artikel I-40, Absatz, 2: "Die Gemeinsame Sicherheits- und
Verteidigungspolitik umfasst die schrittweise Festlegung einer gemeinsamen
Verteidigungspolitik der Union. Diese führt zu einer gemeinsamen
Verteidigung, sobald der Europäische Rat einstimmig darüber
beschlossen hat." Es gibt so etwas wie eine Loyalitätspflicht innerhalb der
EU: In Artikel I-15, Absatz 2 heißt es: "Die Mitgliedstaaten
unterstützen die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der Union
aktiv und vorbehaltlos im Geiste der Loyalität und der gegenseitigen
Solidarität und achten die Rechtsakte der Union in diesem Bereich. Sie
enthalten sich jeder Handlung, die den Interessen der Union zuwiderläuft
oder ihrer Wirksamkeit schaden könnte." Solange noch kein Beschluss des
Eu-Ministerrates zur "Verteidigungspolitik" vorliegt, können aber einzelne
Staaten innerhalb der EU, die in Bezug auf das Militär "untereinander
festere Verpflichtungen eingegangen sind" und damit "eine strukturierte
Zusammenarbeit im Rahmen der Union" begründen (Artikel I-40, Absatz 6, mehr
dazu unter Punkt 7). Einzelstaaten der EU können nach der Verabschiedung
der EU-Verfassung die voranschreitende gemeinsame Militärpolitik nicht mehr
ohne weiteres verhindern. Bei Annahme dieses EU-Verfassungsentwurfs wird der
gemeinsamen Militärpolitik der Europäischen Union eine - wenn nicht
die - zentrale Funktion im Prozess der Integration der EU der 25
Mitgliedsstaaten zugewiesen, dies wird in den Abschnitten über
Zuständigkeiten (besonders Artikel I-11) bzw. des allseitigen
Verbindlichkeitscharakter (Artikel I-15) besonders deutlich. Außerdem ist
die gemeinsame Militärpolitik ein - wenn nicht das - zentrale (neue)
Element dieses EU-Verfassungsentwurfs.
4.
Aufrüstungs-Verpflichtung in der Verfassung! - Kontrolle durch neues Amt
Was den friedens- bzw. militärpolitischen Bereich anbelangt,
finden sich im Verfassungsentwurf zahlreiche dramatische Neuerungen: So gibt es
eine explizite Aufrüstungsverpflichtung im Verfassungsrang: "Die
Mitgliedstaaten verpflichten sich, ihre militärischen Fähigkeiten
schrittweise zu verbessern" (Artikel I-40, Absatz 3). D.h. in der
zukünftigen EU-Verfassung wird eine regelmäßige Aufrüstung
festgeschrieben! Um diese regelmäßige Aufrüstung zu kontrollieren
und teilweise durchzuführen wird ein "Europäisches Amt für
Rüstung, Forschung und militärische Fähigkeiten eingerichtet,
dessen Aufgabe es ist, den operativen Bedarf zu ermitteln und Maßnahmen zur
Bedarfsdeckung zu fördern, zur Ermittlung von Maßnahmen zur
Stärkung der industriellen und technologischen Grundlage des
Verteidigungssektors beizutragen und diese Maßnahmen gegebenenfalls
durchzuführen, sich an der Festlegung einer europäischen Politik im
Bereich Fähigkeiten und Rüstung zu beteiligen sowie den Ministerrat
bei der Beurteilung der Verbesserung der militärischen Fähigkeiten zu
unterstützen." (Artikel I-40, Absatz 3). Sowohl in Bezug auf die
"Verbesserungen der militärischen Fähigkeiten als auch bei der
Bewertung durch das "Europäisches Amt für Rüstung, Forschung und
militärische Fähigkeiten" ist explizit von einer "Verpflichtung" die
Rede!
5. EU-Truppen in aller Welt? - Festschreibung von
Kampfeinsätzen (auch in Drittstaaten) in der Verfassung!
Die EU
erhält für ihre Militärpolitik einzelstaatliche
Militärkontingente: "Die Mitgliedstaaten stellen der Union für die
Umsetzung der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik zivile und
militärische Fähigkeiten als Beitrag zur Verwirklichung der vom
Ministerrat festgelegten Ziele zur Verfügung. Die Mitgliedstaaten, die
untereinander multinationale Streitkräfte bilden, können diese auch
für die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik zur Verfügung
stellen." (Artikel I-40, Absatz 3) Ein weiteres Novum ist, dass die Bereitschaft
zu weltweiten Militäreinsätzen zur verfassungsmäßigen
Pflicht erhoben wird. EU-Streitkräfte sollen zu "Kampfeinsätzen im
Rahmen der Krisenbewältigung einschließlich Frieden schaffender
Maßnahmen" (Artikel III-210) eingesetzt werden können. Weiter
heißt es: "Mit allen diesen Missionen kann zur Bekämpfung des
Terrorismus beigetragen werden, unter anderem auch durch die Unterstützung
für Drittstaaten bei der Bekämpfung des Terrorismus in ihrem
Hoheitsgebiet". (Artikel III-210). Hierbei handelt es sich um ein extrem weit
gefasstes Mandat für etwaige EU-Kampfeinsätze. Es würde der EU
sogar erlauben sich in Bürgerkriegen auf die Seite der einen oder anderen
Fraktion zu schlagen und militärisch mit der Begründung des "Kampfes
gegen den Terrorismus" den Kriegsausgang zu beeinflussen. Wo die Grenze solcher
exterritorialer EU-Militäreinsätze gezogen wird, bleibt offen.
6. Festschreibung des Kerneuropakonzepts - enge Zusammenarbeit EU -
NATO
In Artikel 40, Absatz 6 des Verfassungsentwurfs heißt es:
"Die Mitgliedstaaten, die anspruchsvolle Kriterien in Bezug auf die
militärischen Fähigkeiten erfüllen und die im Hinblick auf
Missionen mit höchsten Anforderungen untereinander festere Verpflichtungen
eingegangen sind, begründen eine strukturierte Zusammenarbeit im Rahmen der
Union." In Artikel I-40, Absatz 7 wird das, was Jacques Chirac mal als
Vorausteam wie bei der Tour de France bezeichnet hat, konkretisiert: "Solange
der Europäische Rat keinen Beschluss im Sinne des Absatzes 2 gefasst hat,
wird im Rahmen der Union eine engere Zusammenarbeit im Bereich der gegenseitigen
Verteidigung eingerichtet." Dies bedeutet, dass einzelne Staaten innerhalb der
EU, die "untereinander festere Verpflichtungen eingegangen" sind, gemeinsame
ständige militärische Strukturen schaffen können. Dies ist im
militärischen Bereich das, was der deutsche Außenminister in seiner
Grundsatzrede ["Vom Staatenverbund zur Föderation - Gedanken über die
Finalität der europäischen Integration"] am 12. Mai 2000 an der
Humboldt-Universität in Berlin (z.B. unter:
http://www.deutschebotschaft-moskau.ru/de/aussenpolitik/reden/foederation.html )
beschrieben hat. Er sprach dort von einem "Avantgarde"-Europa, von einem
"Gravitationszentrum" innerhalb der EU, der ältere Begriff vom "Kerneuropa"
von Wolfgang Schäuble und Karl Lamers trifft die Sache allerdings besser.
Diese so genannte "strukturierte Zusammenarbeit" bzw. "engere
Zusammenarbeit" im Bereich der Militärpolitik ist eine Art Exklusivclub
innerhalb der EU: So heißt es in Artikel III-213, Absatz 3: "Wenn der
Ministerrat die Europäischen Beschlüsse über den Gegenstand der
strukturierten Zusammenarbeit erlässt, nehmen nur die Mitglieder des
Ministerrates, die an der strukturierten Zusammenarbeit beteiligte
Mitgliedstaaten vertreten, an den Beratungen und an der Abstimmung über
diese Beschlüsse teil. Der Außenminister der Union nimmt an den
Beratungen teil. Die Vertreter der anderen Mitgliedstaaten werden
ordnungsgemäß und in regelmäßigen Abständen vom
Außenminister der Union über die Entwicklung der strukturierten
Zusammenarbeit informiert." Wie diese engere Militärzusammenarbeit im
Rahmen der EU von anderen EU-Einzelstaaten gebremst oder verhindert werden
könnte, bleibt völlig offen. Für die offiziell noch neutralen
Staaten der EU - Finnland, Irland, Österreich und Schweden - stellt sich
ein weiteres Problem: In der EU-Verfassung gibt es eine Reihe von expliziten
Regelungen für die Zusammenarbeit mit der NATO, so z.B. im Artikel I-40,
Absatz 7: "Bei der Umsetzung der engeren Zusammenarbeit im Bereich der
gegenseitigen Verteidigung arbeiten die beteiligten Staaten eng mit der
Nordatlantikvertrags-Organisation zusammen." Damit ist die Befürchtung
nicht unberechtigt, dass mit der Unterzeichnung dieser EU-Verfassung für
die bisherigen Nicht-NATO-Staaten die EU-Mitgliedschaft eine
"NATO-Mitgliedschaft light" wird.
7. Ministerrat entscheidet allein
- Keine Parlamentbeteiligung bei Militäreinsätzen weder vom
EU-Parlament noch vom Bundestag
Mehrfach wird in der EU-Verfassung
betont, dass die alleinige Entscheidungsgewalt über die
EU-Militärpolitik beim EU-Ministerrat liegt: "Über militärische
Einsätze der EU entscheidet der Ministerrat", so regelt das Artikel 40
Absatz 4 des EU-Verfassungsentwurfs. Ähnlich noch einmal in Artikel 198
Absatz 1: "Verlangt eine internationale Situation ein operatives Vorgehen der
Union, so erlässt der Ministerrat die erforderlichen Europäischen
Beschlüsse". Das EU-Parlament soll also nicht beteiligt werden. In Absatz 8
des Artikels 40 wird lediglich regelt, dass das EU-Parlament zu "wichtigsten
Aspekten" regelmäßig anzuhören sei und über die Entwicklung
der "grundlegenden Weichenstellungen der gemeinsamen Sicherheits- und
Verteidigungspolitik auf dem Laufenden gehalten" wird. Artikel 205 Absatz 1
präzisiert dieses Informationspflicht. In Absatz 2 heißt es dann: "Das
Europäische Parlament kann Anfragen an den Ministerrat und den
Außenminister der Union stellen." Doch eine Informationspflicht ist kein
Beschlussrecht. In seinem Urteil vom 12. Juli 1994 hatte das
Bundesverfassungsgericht bezüglich Auslandseinsätze der Bundeswehr
verbindlich festgelegt, dass der Bundestag Auslandseinsätzen mit einfacher
Mehrheit zustimmen muss. Da EU-Recht grundsätzlich deutsches Recht bricht,
ist fraglich, ob die Beteiligung des Bundestages damit nicht de facto gestrichen
ist. Dieser EU-Kontext wirft auf die derzeitige Erarbeitung des so genannten
"Parlamentsbeteiligungsgesetzes" - eigentlich richtiger
Parlementsentmachtungsgesetz - ein neues Licht: Im vorliegenden Gesetzentwurf
der SPD sind vor allem zwei Regelungen interessant: Erstens sollen nur noch
bewaffnete Einsätze durch den Bundestag abgestimmt werden und zweitens
sollen Verlängerungen von Einsätzen automatisch erfolgen, es sei denn
es widerspricht eine Bundestagsfraktion oder 33 Abgeordnete, dann entscheidet
der Bundestag mit einfacher Mehrheit. Das Problem bei diesem
Parlamentsentmachtungsgesetz ist weniger, dass die Bundestagsabgeordneten nicht
mehr grundsätzlich mit Bundeswehr-Auslandseinsätzen befasst werden,
sondern dass durch diese Nichtbefassung auch die Öffentlichkeit aus dem
Verfahren ausgeschlossen ist. Diese geplante Regelung passt also "sehr gut" zum
Entwurf der EU-Verfassung.
8. EU-Verfassung und Grundgesetz -
Aushebelung des Grundgesetzes
Prof. Dr. Jürgen Meyer (SPD),
über den Bundestag Mitglied im EU-Konvent, hat noch einmal klargestellt,
dass EU-Recht immer deutsches Recht bricht: "Sollte es allerdings ausnahmsweise
zu inhaltlichen Widersprüchen kommen, gilt der Vorrang des EU-Rechts." Auf
folgende Frage: "Kommt damit die vorauszusehende Ratifizierung des Dokuments
durch den Deutschen Bundestag nicht einer Verfassungsänderung gleich?
Welches Abstimmungsverfahren ist hierfür vorgesehen?" konkretisierte er:
"Sie haben Recht. Nach meiner Auffassung ergibt sich aus Art. 23 Grundgesetz,
dass Bundestag und Bundesrat der EU-Verfassung mit 2/3 Mehrheit zustimmen
müssen." D.h., um das noch einmal ganz deutlich zu schreiben: Die Annahme
dieser EU-Verfassung ist eine grundlegende Verfassungsänderung. Das
Grundgesetz ist dann zweitrangig geworden. Besonders die Grundgesetzartikel, die
sich auf den Militärbereich beziehen, die erst 1956 nach der
Wiederbewaffnung eingefügt wurden, sind damit Makulatur: Z.B. Artikel 87a
(1) "Der Bund stellt Streitkräfte zur Verteidigung auf. (...) (2)
Außer zur Verteidigung dürfen die Streitkräfte nur eingesetzt
werden, soweit dieses Grundgesetz es ausdrücklich zulässt" oder
Artikel 26, Absatz 1: "Handlungen, die geeignet sind und in der Absicht
vorgenommen werden, das friedliche Zusammenleben der Völker zu stören,
insbesondere die Führung eines Angriffskrieges vorzubereiten, sind
verfassungswidrig. Sie sind unter Strafe zu stellen." Die neuen Regelungen im
Entwurf für die EU-Verfassung im Militärbereich sind den Regelungen im
Grundgesetz dann übergeordnet. Greift hier eigentlich Artikel 20, Absatz 4
des Grundgesetzes? "Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen,
haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht
möglich ist"?
9. EU-Militärstrategie von Javier Solana:
Die EU als militärischer Faktor im Weltmaßstab in einem multilateralen
System
Im Auftrag der EU-Regierungschefs hat der Verantwortliche
für den Bereich Außen- und Sicherheitspolitik" der EU, Javier Solana
einen Entwurf für ein Strategiepapier für den Militärbereich
vorgelegt. (Original z.B. unter http://imi-online.de/download/Solana-Papier.pdf
) Dieses EU-Militärstrategie-Papier wurde beim EU-Gipfel in Thessaloniki im
Grundsatz von allen EU-Regierungschefs gebilligt. "In diesem Papier werden drei
strategische Ziele für die Europäische Union vorgeschlagen. Erstens
können wir in besonderem Maße zu Stabilität und
verantwortungsvoller Staatsführung in unserer unmittelbaren Nachbarschaft
beitragen. Zweitens müssen wir ganz allgemein eine Weltordnung schaffen,
die sich auf einen wirksamen Multilateralismus stützt. Drittens müssen
wir uns den alten und den neuen Bedrohungen stellen." Die Europäische Union
setzt dafür vor allem auf ihre (neue) militärische Stärke: "Eine
Union mit 25 Mitgliedern und einem Verteidigungsgesamthaushalt von 160
Milliarden Euro sollte in der Lage sein, mehrere Operationen gleichzeitig
auszuführen. Wir müssen eine strategische Kultur entwickeln, die
frühe, schnelle und, falls erforderlich, robuste Interventionen
fördert". "Wenn wir es ernst meinen mit den neuen Bedrohungen und dem
Aufbau von flexibleren mobilen Einsatzkräften, müssen wir die Mittel
für die Verteidigung aufstocken." (Es heißt hier nicht, "wenn die
Bedrohungen ernst zu nehmen sind", es heißt: "Wenn wir es ernst meinen mit
den neuen Bedrohungen..."!) "In einer Welt globaler Bedrohungen, globaler
Märkte und globaler Medien hängt unsere Sicherheit und unser Wohlstand
von einem funktionsfähigen multilateralen System ab." Im Fazit des
Solana-Papiers heißt es: "Wir leben in einer Welt mit neuen Gefahren, aber
auch mit neuen Chancen. Wenn es der Europäischen Union gelingt, zu einem
handlungsstarken Akteur zu werden, dann besitzt sie das Potenzial, einen
wichtigen Beitrag zur Bewältigung der Bedrohungen wie auch zur Nutzung der
Chancen zu leisten. Eine aktive und handlungsfähige Europäische Union
könnte Einfluss im Weltmaßstab ausüben. Damit würde sie zu
einem wirksamen multilateralen System beitragen, das zu einer gerechteren und
sichereren Welt führen würde." Dies sind Kampfansagen an die von der
britischen und us-amerikanischen Regierung beschworene unilaterale Weltordnung
mit einer einzigen Weltmacht USA. Die Europäische Union soll so etwas wie
die zweite Weltmacht in einem "multilateralen" Weltsystem werden!
10.
Auch die Europäische Union will "präventive Kriege" führen.
Im Solana-Papier wird u.a. auch das Präventivkriegskonzept
festgeschrieben: "Die Bedrohungen in diesem neuen Zeitalter haben ihren Ursprung
oftmals in fernen Gebieten. Im Zeitalter der Globalisierung können
allerdings solche fernen Bedrohungen genauso Besorgnis erregend sein wie
näher gelegene. Nukleare Tätigkeiten in Nordkorea, nukleare Risiken in
Südasien und Proliferation im Nahen Osten sind allesamt ein Grund zur
Besorgnis für Europa." Und: "Unser herkömmliches Konzept der
Selbstverteidigung, das bis zum Ende des Kalten Krieges galt, ging von der
Gefahr einer Invasion aus. Bei den neuen Bedrohungen wird die erste
Verteidigungslinie oftmals im Ausland liegen. Die neuen Bedrohungen sind
dynamischer Art. Wenn sie nicht beachtet werden, erhöht sich die Gefahr.
... Daher müssen wir bereit sein, vor dem Ausbrechen einer Krise zu
handeln." Damit wird das Kernelement der National Security Strategy (NSS) der
USA, - die so genannte Bush-Doktrin - auch für den EU-Rahmen
festgeschrieben. Die Bombenphase des Krieges gegen den Irak war der Testlauf
für dieses Präventivkriegskonzept (vgl. z.B. Financial Times
Deutschland, 19.03.2003). Inzwischen gilt dieses Präventivkriegskonzept
offensichtlich unter Militärs und Regierungen des Westens als
Erfolgsrezept. Die Formulierungen im Solana-Papier zeigen, dass es keinen
qualitativen - nur noch einen quantitativen - Unterschied gibt im Bereich der
expansiven Militärpolitik zwischen EU und USA. Von vielen, auch von
Regierungen, im "alten Europa" werden gerne die US-Regierung und ihre Methoden
kritisiert, doch genau diese EU-Regierungen - einschließlich der deutschen
rot-grünen Regierung - übernehmen sehr gerne - z.B. mit der neuen
EU-Militärstrategie - genau diese Methoden, z.B. die
Präventivkriegsstrategie.
11. Der Kampf um das Gute in der Welt
- oder wo liegt das Problem, im Süden oder im Westen?
oder Mit oder
ohne die USA - der Feind ist der Süden
Die drei Hauptgefahren,
die die EU-Regierenden sehen, werden im Solana-Papier benannt: "Bei einer
Summierung dieser verschiedenen Elemente extrem gewaltbereite Terroristen,
Verfügbarkeit von Massenvernichtungswaffen und Scheitern staatlicher
Systeme ist es durchaus vorstellbar, dass Europa einer sehr ernsten Bedrohung
ausgesetzt sein könnte." Gegen diese Bedrohungen helfe nur ein gemeinsames
Handeln. Das Ziel der EU-Politik wird offen und direkt formuliert, auch wenn
man/frau den Satz mehrfach lesen muss, um zu glauben, dass er tatsächlich
so im Militärstrategiepapier der EU steht:: "Gemeinsam handelnd können
die Europäische Union und die Vereinigten Staaten eine eindrucksvolle Kraft
sein die sich für das Gute in der Welt einsetzt." Gemeinsam für "das
Gute in der Welt" gegen alles "Böse"? Für wen dieses "Gute" gut sein
soll, ist klar. Es geht um möglichst viel Macht, Einfluss und
wirtschaftliche Expansion aus den westlichen Staaten. Die westlichen Staaten
sind sich in den Kernfragen einig, bei Differenzen im Detail (Irak): weitere
Aufrüstung und Herausbildung kriegsführungsfähiger Armeen. Die
Kriege der Zukunft werden in ständig wechselnden Koalitionen stattfinden,
bei denen nicht immer alle mitmachen werden. Aber die Kriege werden stattfinden,
gegen Länder und Menschen im Süden. Die Analysen, die hinter dem
Entwurf für eine EU-Verfassung und hinter dem Solana-Papier stehen, gehen
davon aus, dass das Problem im Süden bei den "gescheiterten Staaten" liegt.
Im Entwurf für die neue EU-Verfassung wird genau die neoliberale
Wirtschaftspolitik festgeschrieben, die weltweit zu Verarmung führt. Das
Problem liegt also offensichtlich im Wesentlichen nicht im Süden, sondern
im Westen... Die Politik der westlichen Staaten muss grundlegend geändert
werden. Die derzeitige neoliberale und neoimperiale Politik der EU-Staaten -
zwei Seiten einer Medaille - darf nicht auch noch festgeschrieben werden in der
zukünftigen Verfassung der Europäischen Union.
12.
Vorschlag der Initiierung einer Kampagne gegen die EU-Verfassung, um u.a. gegen
die Militarisierung der Europäischen Union aktiv zu werden
Deshalb schlagen wir als Informationsstelle Militarisierung vor,
eine Kampagne gegen diese EU-Verfassung zu initiieren. Die EU-Verfassung ist ein
Ausfluss der falschen Politik der Regierungen der EU-Staaten. Im
Militärbereich ist der EU-Verfassungsentwurf erschreckend und deshalb kann
diese EU-Verfassung nur abgelehnt werden. Eine Kampagne gegen diese
EU-Verfassung könnte getragen werden von Gruppen der Friedens- und
Antikriegsbewegung, Gruppen der globalisierungskritischen Bewegung, Gruppen der
Bewegung gegen Sozialabbau, Gruppen, die sich um Flüchtlinge kümmern,
usw. Eine Kampagne gegen diese EU-Verfassung könnte in der Zusammenarbeit
über Grenzen hinweg zwischen politischen Gruppen verschiedener EU-Staaten
stattfinden. Dieser Entwurf der EU-Verfassung ist keine EU-Verfassung für
die Menschen. Dieser Entwurf der EU-Verfassung ist nicht unsere
EU-Verfassung!
Nachbemerkung:
- Dieser Text erscheint zum
Europäischen Sozialforum (ESF) in Paris auch in englischer Sprache, dank
der Übersetzung von Andreas Speck (WRI - War Resisters International).
- Wenn es unter den Leser/innen Menschen gibt, die innerhalb eines Tages
einen solchen Text auch in andere Sprachen übersetzen können, bitte
übersetzen oder melden bis 11.11.2003, 20.00 Uhr unter IMI@imi-online.de
(Die Zitate finden sich auf der Internet-Seite des EU-Konvents
[http://european-convention.eu.int ] in allen
EU-Sprachen)
http://imi-online.de/download/IMI-Analyse-2003-036-EU-Verfass-Pflueger.pdf
Text in english: http://www.imi-online.de/2003.php3?id=713
Original: http://wri-irg.org/news/2003/eumil-en.htm
PDF:
http://imi-online.de/download/eumil-en.pdf
english short text in
Peace-News: http://www.peacenews.info
Tobias
Pflüger
Informationsstelle Militarisierung (IMI)
e.V.
Hechingerstraße 203
72072 Tübingen
Tel:
07071/49154
Fax: 07071/49159
Email:
imi@imi-online.de
http://www.imi-online.de
Text im
PDF-Format:
IMI-Analyse-2003-036-EU-Verfass-Pflueger.pdf