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disKURSwechsel :: Agenda 2010

Die Löhne in Deutschland sind zu niedrig

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Eine Senkung der "Nebenkosten" würde die Binnennachfrage weiter schwächen, aber keine Arbeitsplätze schaffen
VON MICHAEL SCHLECHT
Der Standpunkt des Autors
Es ist verführerisch, unter dem Kostendruck der Arbeitgeber einer Senkung der so genannten Lohnnebenkosten zuzustimmen, um Arbeitsplätze zu sichern.
Doch Michael Schlecht warnt: Es handelt sich hier um Lohnkosten, die für Nachfrage von Rentnern, Arbeitslosen und im Gesundheitswesen sorgen. Auch eine Erhöhung der Mehrwertsteuer als Ausgleich würde der Binnennachfrage schaden. Schlecht ist Chefvolkswirt der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi. aud

Die Arbeitslosigkeit steigt und steigt. Im Januar 2005 wurde erstmals seit Bestehen der Bundesrepublik die Fünf-Millionen-Grenze überschritten. Aus Sicht der Unternehmer und vieler Politiker sind hohe Lohnkosten für Krise und Arbeitslosigkeit verantwortlich. Wäre die Arbeit billiger, würden mehr Menschen in Lohn und Brot kommen. Elegant erscheinen da Forderungen, die "Lohnnebenkosten" - Beiträge der Arbeitgeber vor allem zu den Sozialversicherungen der Beschäftigten - zu senken.

Tatsächlich sind die "Lohnnebenkosten" Teil des Arbeitslohns. Deshalb sind sie auch Teil des Arbeitnehmerentgelts, wie es das Statistische Bundesamt ausweist. Wer die Senkung der "Lohnnebenkosten" propagiert, will Löhne senken!

 

Das kleinere Übel?

Aus betrieblicher Sicht scheinen wirtschaftliche Schwierigkeiten in der Tat an zu hohen Kosten zu liegen. Bei schlechter Auftragslage und immer aggressiverem Preiskampf rücken die Arbeitskosten ins Blickfeld. Da Betriebsräte und viele hauptamtliche Gewerkschafter in betrieblichen Konflikten agieren, drängt sich ihnen die Notwendigkeit der Kostensenkung als scheinbar bittere Realität auf. Zur Vermeidung von Lohnkürzungen erscheint auch ihnen die Senkung der "Lohnnebenkosten" als Ausweg. Die finanzielle Beeinträchtigung der Sozialkassen sei in Anbetracht von Arbeitsplatzangst und Druck auf die Löhne das kleinere Übel.

Für Gewerkschafter, die sich nicht vom Schein der betrieblichen Verhältnisse einfangen lassen, ist dies eine verhängnisvolle Sichtweise. Sobald man die gesamt-wirtschaftlichen Folgen einbezieht wird klar: Löhne sind nicht nur Kosten. Sie bestimmen gleichzeitig die gesamtwirtschaftliche Nachfrage. Dass Betriebe Auftragsmangel haben, hat primär etwas mit der zu schwachen Nachfrage zu tun. Mit Lohnkostensenkungen wird die Krise nur noch verschärft.

Ebenso wie sinkende Löhne vermindern sinkende "Lohnnebenkosten" die gesamt-wirtschaftliche Nachfrage. Die Beiträge zur Sozialversicherung fließen über die Sozialversicherungen direkt in Form von Arbeitslosengeld oder Renten den Haushalten zu, die damit ihre Nachfrage finanzieren. Oder mit ihnen werden Sachleistungen wie Rollstühle oder Krankenhausaufenthalte finanziert. Kürzungen führen also sofort zu Einschnitten bei der Binnennachfrage.

Die zentrale Frage lautet: Hat Deutschland überhaupt ein Lohnproblem? Die Antwort ist: Ja! Aber nicht in Form zu hoher, sondern zu niedriger Löhne!

Deutschland ist Exportweltmeister und hat seinen Exportüberschuss - Export minus Import von Waren und Dienstleistungen - in den letzten Jahren rund verdreifachen können. Und die Tendenz ist weiter steigend.

Allerdings hat diese Weltmeisterschaft eine deutliche Kehrseite: Die schwache Binnennachfrage. Der verteilungsneutrale Spielraum ist bei den Lohnerhöhungen seit 1980 um rund 20 Prozent verfehlt worden. Stieg das Arbeitnehmerentgelt im Jahr 2000 noch um 3,9 Prozent, ist 2004 der vorläufige Tiefpunkt mit einer Absenkung der Arbeitseinkommen um - 0,1 (!) Prozent erreicht.

Die schleswig-holsteinische Ministerpräsidentin Heide Simonis glaubt eine Geheimwaffe gefunden zu haben: Umfinanzierung der "Lohnnebenkosten" durch eine Erhöhung der Mehrwertsteuer. Eine Erhöhung der Mehrwertsteuer führt jedoch zu höheren Preisen. Der höhere Nettolohn aufgrund der verringerten Sozialversicherungsbeiträge der Beschäftigten würde für viele durch die höheren Preise mehr als aufgefressen.

Der Mehrwertsteuer-Irrtum

Rentnerinnen und Rentner, Erwerbslose, Empfängerinnen und Empfänger von Sozialhilfe, Bafög oder anderen Sozialleistungen hätten sogar nur Nachteile. Sie müssten höhere Preise zahlen ohne von einer Senkung von "Lohnnebenkosten" in irgendeiner Weise zu profitieren.

Deshalb wäre die Senkung der "Lohnnebenkosten" bei gleichzeitiger Gegenfinanzierung durch eine Erhöhung der Mehrwertsteuer eine weitere Verschärfung der Umverteilung von unten nach oben. Die Sozialversicherungs-Beiträge sind in den letzten 20 Jahren von 16 Prozent auf über 20 Prozent gestiegen. Viele Beschäftigte fragen sich: "Ist da nicht doch etwas faul?"

Das Problem ist, dass die Sozialversicherung in Anbetracht der Beschäftigungskrise von einem kleiner gewordenen Kreis von Menschen finanziert werden muss. Auch die "Minijobs" belasten die Sozialkassen, weil keine vollen Beiträge gezahlt werden. Damit steigen die Beiträge jedes einzelnen Beschäftigten, ohne dass sich die Kosten der Sozialversicherung insgesamt nennenswert erhöht haben.

Eine weitere Belastung der Sozialversicherung sind die Leistungen zur Finanzierung der Deutschen Einheit. Die Beiträge könnten fast drei Prozentpunkte niedriger liegen, wenn diese Kosten der Sozialversicherungen durch Steuern aufgebracht worden wären.

Entscheidend ist, dass höhere steuerfinanzierte Zuschüsse zu den Sozialversicherungen durch eine stärkere Besteuerung von Gewinn- und Vermögenseinkommen finanziert werden müssen. Eine Erhöhung der Mehrwertsteuer lehnen wir ab, da sie besonders die unteren Einkommensschichten belasten und so zu weiteren Ungerechtigkeiten führen würde.

Frankfurter Rundschau online 2005 - Erscheinungsdatum 25.02.2005

Posted: Fr - März 25, 2005 at 05:50 nachm.  
   
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