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disKURSwechsel :: Agenda 2010

Reformspiel über Bande

Zum Wechsel des SPD-Parteivorsitzes
von Daniel Kreutz
Betrachtet man die öffentliche Diskussion über den Rückzug des Bundeskanzlers vom Parteivorsitz der SPD zu Gunsten von Fraktionschef Franz Müntefering, so überwiegen Deutungen, wonach dies als „Schwächung des Reformkurses“ im Wege der Stärkung des Einflusses der Partei auf die Regierungspolitik in Richtung von „mehr sozialer Gerechtigkeit“ oder weniger sozialer Grausamkeit zu verstehen sei. Die harsche Reaktion Wolfgang Clements, des Motors der neoliberal inspirierten post-sozialdemokratischen Reformpolitik, scheint diese Wahrnehmung zu stützen. Infolge dessen hat die SPD in Umfragen bereits unmittelbar nach Beginn dieser Diskussion zugelegt. Deutungen dieser Art gehen jedoch fehl.

 

Reformspiel über Bande 
Zum Wechsel des SPD-Parteivorsitzes
von Daniel Kreutz
Betrachtet man die öffentliche Diskussion über den Rückzug des Bundeskanzlers vom Parteivorsitz der SPD zu Gunsten von Fraktionschef Franz Müntefering, so überwiegen Deutungen, wonach dies als „Schwächung des Reformkurses“ im Wege der Stärkung des Einflusses der Partei auf die Regierungspolitik in Richtung von „mehr sozialer Gerechtigkeit“ oder weniger sozialer Grausamkeit zu verstehen sei. Die harsche Reaktion Wolfgang Clements, des Motors der neoliberal inspirierten post-sozialdemokratischen Reformpolitik, scheint diese Wahrnehmung zu stützen. Infolge dessen hat die SPD in Umfragen bereits unmittelbar nach Beginn dieser Diskussion zugelegt. Deutungen dieser Art gehen jedoch fehl.
Vor dem Hintergrund meiner persönlichen Erfahrung mit den Mechanismen „professioneller“ Politik und immerhin zwei der Akteure (Müntefering und Clement) ist gerade das, was als „Unsicherheit“ für die Zukunft der Agenda-Reformen erscheinen mag, tatsächlich als Versuch konzipiert, ihr gegen den Trend zunehmender Abwendung erheblicher Teile der sozialdemokratischen Wählerschaft wieder Stabilität zu verleihen. Und dieser Versuch jst gleichermaßen bitter nötig wie aussichtsreich.
Es ist mittlerweile offensichtlich, dass die rücksichtslose Durchsetzung von Reformen, die die traditionellen sozialdemokratischen Werte der sozialen Gerechtigkeit, der Solidarpflicht der Starken gegenüber den Schwachen mit Füßen treten und dahin tendieren, die sozialpolitischen Errungenschaften der Sozialdemokratie im 20. Jahrhundert auszulöschen, zu Mitgliederverlusten führt, deren qualitative Dimension ihre quantitative weit übersteigt. Noch stärker und noch bedrohlicher wirkt die stetige Erosion der SPD-Wählerschaft, die seit dem Rückzug Oskar Lafontaines zur Dauererscheinung würde.
Auch Clement weiß, dass er nur dann „dran“ bleibt und die Chance hat, sein Politikkonzept durchzusetzen, wenn die SPD in der Lage ist, die Bundestagswahl 2006 für sich zu entscheiden. Da sein offener Radikalkurs so in der SPD nicht mehrheitsfähig ist, ist er darauf angewiesen, dass andere - mit unvermeidlichen Konzessionen an das Gerechtigkeitsempfinden - den Laden zusammen halten und die Wählerschaft entsprechend beeinflussen können. Diese Konzessionen dürfen allerdings nicht so weit gehen, dass die Fortsetzung des „Reformkurses“ in Frage stünde. Sie müssen sie sich im Symbolischen erschöpfen.
All dies dürfte Schröder genauso sehen. Der verbliebene „Sozialflügel“ der SPD bietet gute Voraussetzungen dafür, dass eine Strategie der symbolischen Befriedung des beunruhigten sozialdemokratischen Gewissens ausreicht, um mit weit geringeren Widerständen auf dem Weg der Agenda 2010 voranzugehen. Ein im innerparteilichen Machtgefüge bedeutsamer Faktor sind „Sozialflügel“ und Parteilinke längst nicht mehr. SPD Parteitage haben - mehr noch als die der Grünen - die Führungsanträge zur Unterstützung des „Reformkurses“ stets mit erdrückenden Mehrheiten und ohne ernstzunehmende Herausforderung durch politische und personelle Alternativen verabschiedet. Wo sich Kritik am Kurs offen artikuliert, beschränkt sie sich unter sorgsamer Umgehung der Richtungsfragen auf nachsorgende Schadensbegrenzungen im Detail. Es ist ein plausibles Kalkül, dass man eine solche Partei verstärkt hinter dem Agenda-Kurs einigen kann, wenn man der „sozialdemokratischen Seele“ mit Symbolen schmeichelt.
Ein solches Symbol ist Franz Müntefering selbst. Seine frühere Konfliktfähigkeit mit Clement in NRW verleiht ihm die Aura, für „ was anderes“ zu stehen als Clement. Die beeindruckt auch dann noch, wenn „Münte“ nicht müde wird, auf die Fortsetzung des Agenda-Kurses zu drängen. Wenn der erklärt, dass man „Tempo rausnehmen“ müsse, mag dies eine Verlangsamung des Tempos andeuten. Mit einem Richtungswechsel hat eine solche Aussage schon sprachlich nichts zu tun. Zugleich wird bekräftigt, dass an den bereits weit im Verfahren befindlichen Rentenreformen nicht gerüttelt werde. Dann wird schon eher die Pflegereform aufgeschoben. Erst wenn die Rücklagen der Pflegeversicherung vollends zur Neige gehen, entsteht schließlich jene „Sachzwang“-Suggestion, die zur Gewinnung öffentlicher Akzeptanz für soziale Grausamkeiten unerlässlich ist.
Mit den neuerlichen Schlägen gegen die Rente und der beabsichtigten Konterreform der Pflegeversicherung ist aber die Reform-Agenda im Sozialbereich ohnehin erschöpft. Dass unter diesen Umständen versprochen wird, „Tempo raus zu nehmen“, so lange nicht beschädigt wird, was in der Pipeline ist, kostet nicht viel und entspricht weitgehend dem ohnehin zu erwartenden Verlauf auf das Wahljahr 2006 zu.
Gerade Clements Reaktionen auf den Vorsitzenden Müntefering verhelfen dem zur notwendigen sozialen Glaubwürdigkeit: wenn Clement seine Politik wegen Müntefering gefährdet sieht, muss der doch deutlich sozialer sein. Das Spiel geht ähnlich wie in der Tarifpolitik, wo öffentliche Krokodilstränen des Arbeitgeberverbands der beste Beitrag dazu sind, der gewerkschaftlichen Tarifkommission einen miserablen Abschluss als Erfolg zu verkaufen.
Das SPD Landeschefs, die Kommunal- und Landtagswahlen entgegengehen, links für soziale Gerechtigkeit blinken, wie derzeit Harald Schartau mit Nachbesserungsforderungen zur Belastung der Betriebsrenten mit doppelten Krankenkassenbeiträgen, sollte seit des Reformers“ Sigmar Gabriels „Kampf“ für die Vermögensteuer keinerlei Neuigkeitswert haben. Neben personellen sind schließlich auch fachpolitische Symbole gefragt, will man den Laden zusammenhalten.
Ein solches Symbol ist – zumindest vorerst - auch die Debatte um die Ausbildungsabgabe. Es ist bemerkenswert, in welchem Maße die Medien geneigt sind, die aktuelle Diskussion als Indiz einer drohenden „Kurskorrektur“ zu werten. Immerhin war die Abgabe in Schröders Agenda-Erklärung vom März 2003 schon ausdrücklich erwähnt – als „Drohpotential“ gegenüber der Wirtschaft für den Fall, dass sie es an hinreichend darstellbaren Anstrengungen gegenüber der Ausbildungslosigkeit vermissen lässt. Solange das entsprechende Gesetz nicht beschlossen ist, bleibt das Thema auf der Ebene des „Säbelrasselns“. Und Müntefering wählte mit Bedacht die Sprachregelung, dass über die Abgabe – wie über die Erbschaftssteuer – „gesprochen“ werden müsse.
Die rot-grüne Landesregierung in NRW hat in der 2. Hälfte der 90er Jahre mit der Drohung der Ausbildungsabgabe die Wirtschaft in den Ausbildungskonsens NRW mit den Gewerkschaften genötigt. Damit hat sie andererseits den DGB-NRW dazu gebracht, die gewerkschaftliche Forderung nach der Abgabe so tief zu hängen, dass die Arbeitgeber-Partner im Konsensbündnis nicht vergrätzt wurden. Zwar blieb die erforderliche Verbesserung der Lage am Ausbildungsstellenmarkt aus, doch galt vorerst, was Walter Riester als designierter Arbeits- und Sozialminister vor der Bundestagswahl 1998 in einem Zeitungsinterview sinngemäß sagte: Entscheidend sind nicht die Zahlen. Entscheidend ist, dass den Menschen das Gefühl zu geben, dass dran gearbeitet wird.
Warum sollte die SPD-Spitze nicht den Versuch machen, diese schon einmal erfolgreiche Strategie auf Bundesbene zu wiederholen? Solange das „Drohpotenzial“ der Abgabe gebraucht wird, um die Wirtschaft zu Zugeständnissen zu bringen, die ausreichen, um den Verzicht auf die Abgabe plausibel zu machen, ist es auch hervorragend geeignet, der „sozialdemokratischen Seele“ zur Illusion einer politischen Konfrontation mit dem Arbeitgeberlager zu verhelfen.
Wenn über die Erbschaftssteuer oder selbst die Vermögensteuer „gesprochen“ wird, ist dies schon angesichts der Blockademauer des Bundesrats auch nicht mehr als „symbolisch“. Kein Millionenerbe und kein Großvermögender muss sich deshalb ernsthaft sorgen.
Bei der Rente scheint sich der „Sozialflügel“ gegenwärtig auf die Verteidigung einer Niveausicherungsklausel zu konzentrieren. Die verpflichtet den Gesetzgeber zur Intervention, wenn das Rentenniveau ansonsten unter einen bestimmten Wert absinkt. Auch dies wäre ein bloßes Symbol, denn gerade die aktuelle Rentenreform zeigt, dass eine solche Sicherungsklausel mit entsprechenden gesetzgeberischen Mehrheiten ebenso schnell wieder abgeschafft wie eingeführt werden kann. Substanziell wäre etwa ein Nein zum „Nachhaltigkeitsfaktor“, der die Renten langfristig derart kürzt, dass der Ruf nach der Niveausicherungsklausel erst Plausibilität gewinnt. Aber das wäre eine Richtungsfrage.
Auch in der Mitte der letzten Legislaturperiode befand sich die SPD im Stimmungstief. War es nicht schon damals Müntefering, der im Vorwahlkampf aus ungünstiger Ausgangslage darauf hinwies, dass das Spiel erst mit dem Abpfiff vorbei ist? Die Voraussetzungen, die Aufholjagd erneut aus der Defensive heraus zu gewinnen, sind weniger schlecht als allgemein vermutet. Das Thema „Bürgerversicherung contra Kopfpauschalen“ ist hervorragend für die Inszenierung eines Lagerwahlkampfs auf dem Feld der Gesundheitspolitik geeignet – erst recht, nachdem hier in Folge der jüngsten Reform in der Bevölkerung alle Nerven blank liegen. Dass es beiden „Lagern“ letztlich darum geht, die Arbeitgeber weiter aus ihrer Finanzverantwortung für die Krankenversicherung zu entlassen, kann leicht überdeckt werden. Ein ähnliches, im SPD-Kernmilieu eher noch zugkräftigeres Symbolthema ist die „Verteidigung des Flächentarifvertrags“ gegen die Absicht der Opposition, per Gesetz betriebliche Abweichungen vom Tarifvertrag zu ermöglichen. Die Arbeitgeber können gut damit leben, dass unter dem Druck der gleichen Kanzlerdrohung auf gewerkschaftlicher Seite die Bereitschaft gewachsen ist, entsprechende Deregulierungen des Tarifvertrags per Tarifvertrag zu bewerkstelligen. Gleichwohl ließe sich bereits auf diesen beiden Schienen ein Wahlkampf mit der Suggestion „sozial gegen unsozial“ inszenieren. Die Glaubwürdigkeit einer solchen Unternehmung hängt davon ab, dass der SPD entgegen ihrer eigenen Regierungspolitik wieder abgekauft wird, „für das Soziale“ zu stehen. Denn nur dann wird sich das benötigte Heer der ehrenemtlichen Helfer, die aus Überzeugung - vielleicht weniger für ihre Partei als „gegen die Rechten“ – für den Wahlerfolg der SPD trommeln, in Bewegung setzen lassen. Dafür soll „der Franz“ sorgen – in strategischem Einvernehmen nicht nur mit Schröder, der seine Kanzlerschaft zu verteidigen hat, sondern auch mit „Gegenspieler“ Clement. Denn auch der weiß: wenn Schwarz-Gelb gewinnt, sind seine Tage als „Superminister“ gezählt.
Es ist ein Spiel über Bande, mit dem die Partei dazu gebracht werden soll, „ihre“ Regierung mit mehr Begeisterung aktiv zu verteidigen. Das tief Enttäuschte neue Hoffnung schöpfen lässt. Man inszeniert den Unterschied, um die gemeinsame Sache zu sichern und voranzubringen: die Regierungsfähigkeit der post-sozialdemokratischen SPD für den Systemwechsel vom Sozialstaat zum Wettbewerbsstaat. Geht das Kalkül auf, wird auch das Klima für die Entwicklung der notwendigen außerparlamentarischer Bewegung für Sozialstaat und soziale Gerechtigkeit wieder rauer.

Der Autor war von 1990-2000 sozialpolitischer Sprecher der grünen Landtagsfraktion in NRW und ist seither parteilos.

Posted: Mi - März 17, 2004 at 12:12 nachm.  
   
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