|
||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||
|
Peter Grottian Ausnahmsweise gibt es keinen Zweifel. Die Sozialpolitik der Großen Koalition folgt in Ihrer Brutalität dem rot-grünen Agenda-Muster. Müntefering ist in der Verpackung bemüht, das sozialdemokratische Schleifchen nicht mit dem Schuss bürokratischen Zynismus à la Clement zu versehen, aber das Politikmuster der Enteignung, Entwürdigung und Disziplinierung ist tupfengleich. Von 4,23 Euro für Nahrung und Getränke täglich kann niemand wirklich leben, und 18,11 Euro für den ÖPNV im Monat ist der Entzug des Rechts auf Mobilität. 1,2 Mio. Menschen in 700.000 Alg II-Haushalten wohnen nach den Kriterien von Hartz IV „unangemessen“ und werden in diesen Wochen mit Überprüfungsverfahren überzogen, von denen bei allen Schwierigkeiten der Schätzung am Ende 300- 500.000 „stille“ oder „offene“ Zwangsumzüge stehen werden. Die explodierenden Energiekosten lassen zudem mehr und mehr Menschen in die „teuren“ Mietfallen rutschen. Sicherlich, die Kriterien, speziellen kommunalen Regelungen und Ausnahmetatbestände sind bei allen Dehnfugen der Auslegung so vielfältig, dass ein Ergebnis eher aufgrund der gesellschaftspolitischen Auseinandersetzungen entstehen wird, als in der Kaffeesatzleserei erlesener Vorschriften. Aber eines steht schon jetzt fest: Hartz IV gebiert mit den Zwangsumzügen den nächsten sozialpolitisch-bürokratischen Super-Wahnwitz. Dass es allein um menschenunwürdige Disziplinierung geht, macht eine Überlegung deutlich: Wenn wir einmal unterstellen, dass 300.000 Alg II-Haushalte im Durchschnitt 50 Euro monatlich „zu teuer“ wohnen, dann müsste die Gesellschaft schlappe 180 Mio. Euro bezahlen, um diesen Agenda 2010-Irrsinn angemessen zu bewältigen. Noch nicht einmal das Totschlagargument leerer öffentlicher Kassen kann seriös bemüht werden. Wenn wir die Zeichen richtig deuten, dann ist der Mut zur Wut bei den Betroffenen zu den Zwangsumzügen schon vorhanden. Die Hartz IV-Beratungsstellen berichten, dass jetzt 20-40% der Beratungen auf dem Feld der Zwangsumzüge liegt. Sie berichten auch über die individuellen Anpassungen und „stillen“ Lösungen doch irgendwie die 50 Euro zusammenzukratzen, die Freunde und Verwandten anzupumpen oder das Geld aus den Alg II-Sätzen herauszupressen. Aber die Wut staut sich, sie bricht noch nicht heraus und findet keine Bahnen. Die Arbeitsagenturen organisieren einen tröpfelnden, individualisierten Prozess oft kaschiert und dosiert , der auf die Kanalisierung potentiellen Unmuts ausgerichtet ist. Diese lautlose Massendisziplinierung ist bisher noch geglückt. Die Lautlosigkeit hat aber auch deshalb funktioniert, weil die entstandenen Konflikte lokalisiert blieben. Eine bundesrepublikanische Thematisierung des Skandals an sich ist bisher ausgeblieben. Deshalb ist jetzt eine vierfache strategische Orientierung aller derjenigen Gruppen und Initiativen notwendig, die sich der systematischen Verhinderung der Zwangsumzüge annehmen wollen:
Wer am 3. Juni in Berlin einen beeindruckenden sozialpolitischen Protest gegen die Große Koalition organisieren will, muss sich dringend gegen Zwangsumzüge engagieren! Dieses Engagement ist die Voraussetzung dafür, die Dynamik des sozialpolitischen Protests erneut zu entfachen subito! Peter Grottian ist Hochschullehrer für Politikwissenschaft an der FU Berlin und „Bewegungsunternehmer“ im Berliner Sozialforum und dem Aktionsbündnis Sozialproteste. |
|
||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||
impressum | ||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||