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»Widerspruch lohnt sich«
»Widerspruch lohnt sich«
junge Welt vom
11.05.2005 - Interview
Viele ALG-II-Bescheide stehen auf
tönernen Füßen. Ein Gespräch mit Harald
Thomé Interview: Andreas Grünwald *
Harald Thomé ist Vorstand im Verein Tacheles e.V. aus Wuppertal, dort seit
zwölf Jahren in der Sozialberatung tätig, selbständiger Referent
für Arbeitslosen- und Sozialhilferecht und Lehrbeauftragter der EFH
Bochum
F: Am Wochenende fand in der Nähe von Hannover das
Treffen der Bundesarbeitsgemeinschaft der Erwerbslosen- und
Sozialhilfeinitiativen (BAG-SHI) statt. Dort wurde dazu aufgerufen, Widerspruch
gegen ALG-II-Bescheide einzureichen. Warum?
Es gibt neue
Entscheidungen von Sozialgerichten, die Auswirkungen auf die Höhe des ALG
II haben. Konkret betrifft dies die eheähnliche Gemeinschaft und die
Nichtanrechnung der Eigenheimzulage. Diese Gerichtsentscheidungen sind unserer
Einschätzung nach bedeutsam. Verschiedene Sozialgerichte in drei
Bundesländern haben die bisherige durch das Bundesministerium für
Wirtschaft und Arbeit angeordnete Praxis verworfen. Sie haben die Behörden
und auch Herrn Clement ermahnt, sich an die vom Bundesverfassungsgericht
entwickelte und gefestigte Rechtssprechung zu halten. In den zugrundeliegenden
Fällen wurden die jeweiligen Behörden zur Nachzahlung der
vorenthaltenen ALG-II-Leistungen verpflichtet.
Deshalb rufen wir nun
zum massenhaften Widerspruch gegen bisherige Ablehnungsbescheide auf.
Gleichzeitig haben wir Wirtschaftsminister Clement aufgefordert, seinerseits zu
handeln und den Ämtern neue Vorgaben zu machen.
F: Wie ist denn die bisherige behördliche Praxis?
Wenn
eine Mann und eine Frau zusammengezogen sind, wurde eine eheähnliche
Gemeinschaft mit gegenseitiger Unterhaltsverpflichtung angenommen. Unter Hinweis
darauf lehnen die Behörden dann Leistungen ab. Wir gehen davon aus,
daß durch diese rechtswidrige Praxis rund 500 000 Menschen jeweils um bis
zu mehrere hundert Euro monatlich sowie um die ihnen zustehenden Kranken-,
Pflege- und Rentenversicherungsleistungen betrogen worden sind. Überwiegend
betrifft das Frauen. Wir vermuten, daß 100 000 Menschen so aus der
gesetzlichen Krankenversicherung herausgefallen sind.
Jetzt haben
Sozialgerichte aber klargestellt, daß eine eheähnliche Gemeinschaft
erst dann vorliegt, wenn das partnerschaftliche Verhältnis auf Dauer
angelegt ist und weit über ein einfaches gemeinsames Haushalten und
Wirtschaften hinausgeht. Keinesfalls dürfe eine sexuelle Beziehung
ausschlaggebend für eine eheähnliche Gemeinschaft sein. Die
Sozialgerichte stellen klar, daß frühestens nach drei Jahren des
Zusammenlebens eine eheähnliche Gemeinschaft angenommen werden kann. So
entschied beispielsweise das Sozialgericht Düsseldorf am 22.
April.
Das Landessozialgericht Niedersachsen hat zudem dargelegt,
daß die für das ganze Jahr ausgezahlte Eigenheimzulage im ALG-II-Bezug
nicht als Einkommen angerechnet werden darf. Die ALG-II-Leistungsträger
haben aber bundesweit die Eigenheimzulage auf verschiedenen Wegen angerecht
– sogar, wenn die Zulage zur Finanzierung des selbstgenutzten
Wohneigentums abgetreten wurde. Das allein betrifft rund 50000
Bedarfsgemeinschaften.
F: Wie bewertet die BAG-SHI diese
Gerichtsentscheidungen?
Das BAG-SHI hat die jüngsten
Sozialgerichtsentscheidungen einhellig begrüßt. Wir erwarten nun von
Wirtschaftsminister Wolfgang Clement – er ist der oberste Dienstherr der
ALG-II-Leistungsträger –, den Betroffenen monatelange
Widersprüche und Gerichtsverfahren zu ersparen, indem er von sich aus die
von den Gerichten vorgegebenen notwendigen Änderungen umsetzt,
unbürokratisch und schnell! Für den Fall, daß Clement dieser
Aufforderung nicht nachkommt, raten wir allen Betroffenen, mit Hilfe von
Beratungsstellen, Gewerkschaften und Verbänden oder Anwälten gegen
diese rechtswidrige Praxis in Widerspruch zu gehen und Klage zu erheben.
Ausdrücklich verweisen wir darauf, daß Betroffene auch gegen bereits
rechtskräftige Bescheide vorgehen können. Das kann mit
Überprüfungsanträgen nach Paragraph 44 Sozialgesetzbuch X
erfolgen. Niemand sollte auf Nachzahlungen verzichten, die ihm zustehen. Ein
solcher Überprüfungsantrag ist auch dann möglich und anzuraten,
wenn die Betroffenen sich bei der Beantragung von ALG II irrtümlich selbst
als eheähnliche Gemeinschaft eingestuft haben.
Wenn das Recht
falsch angewandt oder falsche Sachverhalte unterstellt wurden, muß die
Behörde den rechtswidrigen Verwaltungsakt zurücknehmen.
*
Weitere Infos unter
www.tacheles-sozialhilfe.de ----------------------- Adresse:
http://www.jungewelt.de/2005/05-11/020.php
Posted: Mi - Mai 11, 2005 at 01:14 vorm.
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