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Parasiten
junge Welt vom 17.11.2005 - Ulrich HansenClement mit
Nazivokabular: Während sein Politikansatz fortgeführt wird, kassiert
der Noch-Wirtschaftsminister weiterhin Strafanzeigen wegen
Volksverhetzung Politiker aus den Reihen der großen
Koalition gehen die Nachbesserung, sprich: Verschärfung etlicher
»Hartz IV«-Bestimmungen an. Die bundesweite Absenkung des Grundbetrags
auf 331 Euro ist zwar erst einmal vom Tisch, es drohen aber Kürzungen der
Rentenbeiträge für ALG-II-Empfänger, die Unterhaltspflicht
für Eltern von ALG-II-Empfängern bis 25 Jahre etc. Gegen sich haben
die Koalitionspolitiker u. a. die Berliner Hartzkampagne , die derzeit eine
weitere Strafanzeige gegen Wolfgang Clement vorbereitet. Wegen
Volksverhetzung, Beleidigung und übler Nachrede soll der
Noch-Wirtschaftsminister vor Gericht. Die Anzeige bezieht sich – wie
andere auch (jW berichtete) – auf den »Parasiten«-Begriff, den
Clement wiederholt öffentlich verwendet hat. Zuerst in einem Bericht seines
Ministeriums, der einen deutlich verharmlosenden Titel trägt:
»Arbeitsmarkt im Sommer 2005«. In der Folge machte er sich den Begriff
noch mehrmals persönlich zu eigen, z. B. gegenüber der Chemnitzer
Freien Presse vom 22. Oktober. Sven Korzilius, Anwalt der
Hartzkampagne und Rechtshistoriker, hat sich im Rahmen seiner Promotion u. a.
mit dem Parasitismus-Vorwurf auseinandergesetzt und verweist auf die historische
Belastung der Vokabel: Der »Parasiten«-Begriff fußt auf einem
biologistischen Gesellschaftsbild und einem ökonomistischen Menschenbild,
das sich im Kaiserreich ausprägte. »Was kosten die minderwertigen
Elemente den Staat und die Gesellschaft?« ist der Titel eines 1911
preisgekrönten, beispielhaften Aufsatzes.
In der Weimarer Republik war ein solches Denken bereits weithin
gebräuchlich, insbesondere in Kreisen, die der »Rassenhygiene«
aufgeschlossen gegenüberstanden. In pseudowissenschaftlichen Artikeln wurde
der »Volkskörper« als geschädigt dargestellt, was nur durch
ein »Ausmerzen« der »kranken« und
»parasitären« Teile des Volkes geschehen könne. Mediziner-
und Fürsorgerkreise diskutierten entsprechende Maßnahmen:
Zwangssterilisationen zur Verhinderung »parasitären« Nachwuchses
(dies richtete sich gegen das Proletariat), die Euthanasie genannte Vernichtung
»lebensunwerten Lebens« sowie die Zwangsverwahrung
»arbeitsscheuer Unterstützungsempfänger« in primitivsten
Anstalten.
Die Radikalisierung des geistigen Klimas während der
Weltwirtschaftskrise trug ihren Teil dazu bei, daß die Nazis die
»Parasiten«-Rhetorik in praktische Politik umsetzen konnten. Drei
zentrale Felder des Naziterrors sind in diesem Zusammenhang zu erwähnen:
Massenweise Zwangssterilisationen (wegen »moralischen Schwachsinns«,
betroffen waren besonders Frauen aus den Unterschichten), Tausende von
Euthanasiemorden in psychiatrischen Anstalten und schließlich die
Einweisung zahlreicher Menschen in Konzentrationslager als »Asoziale«
mit dem Ziel ihrer »Vernichtung durch Arbeit«.
In der
Nazipropaganda gegen Juden hatte der »Parasiten«-Begriff seinen festen
Platz. Nach dem 1988 erschienenen Wörterbuch von Brackmann/Birkenauer
gehört die Vokabel eindeutig zum »NS-Deutsch«. Leider bediente
sich auch die UdSSR des »Parasiten«-Begriffs. Ende der 50er Jahre
wurde dort eine Reihe von »Parasiten«-Gesetzen erlassen, auf deren
Grundlage die Ärmsten der Gesellschaft in die Verbannung geschickt oder in
Arbeitslager gesteckt werden konnten. Versuche, dies auch in der DDR
einzuführen, scheiterten.
Wer, wie Clement, bei einer solchen
Vorbelastung des Begriffs, die ärmsten Teile der Bevölkerung,
nämlich ALG-II-Empfänger, als Parasiten bezeichnet und durch
unzulässige Dunkelzifferspekulationen unter Generalverdacht stellt,
läßt jegliches historische Bewußtsein vermissen. Der Tatbestand
der Volksverhetzung, so Korzilius, dürfte erfüllt sein. Daß der
»Parasiten«-Begriff ein Verächtlichmachen darstellen kann,
welches die Menschenwürde angreift, wurde mehrfach von deutschen
Strafgerichten festgestellt (BayObLG NJW 1995, 145; Kammergericht JR 1998,
213).
Die Verfasser des Clement-Papiers verwandten ihn
böswillig, wollten auf Kosten der Betroffenen vom Scheitern ihrer
Arbeitsmarktpolitik ablenken. Berücksichtigt man, wie häufig in den
vergangenen Jahren etwa Obdachlose Opfer von Körperverletzungs- und sogar
Tötungsdelikten wurden, wie viele Übergriffe es auf Asylbewerber gab
(der »Parasiten«-Begriff bezeichnet im Clement-Bericht
hauptsächlich Menschen mit Migrationshintergrund), ist er darüber
hinaus konkret geeignet, den öffentlichen Frieden zu
stören.
* Diskussion zum Thema mit Sven Korzilius, weiteren
Mitgliedern der Hartzkampagne, der WASG und Gewerkschaftern heute, 19.30 Uhr,
Prinzenallee 58, Berlin-Wedding. Besprochen werden außerdem politische
Alternativen wie Arbeitszeitverkürzung und Existenzgeld (am Beispiel des
BAG-SHI-Modells) ----------------------- Adresse:
http://www.jungewelt.de/2005/11-17/026.php
Posted: Do - November 17, 2005 at 01:14 nachm.
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