taz NRW Nr. 7926 vom 20.3.2006
Bochum bittet zur
MusterungRund 200 Bochumer Hartz IV-Empfänger müssen beim
Amtsarzt antreten. Der Grund: Sie haben ein Attest, dass sie aus
gesundheitlichen Gründen nicht umziehen können. Das will die Bochumer
Verwaltung jedoch noch mal geprüft wissenBOCHUM taz
Hartz
IV-Empfänger müssen in Bochum neuerdings zur Musterung. Zumindest ein
Teil. Rund 1.400 Betroffene hat die Arbeitsgemeinschaft für die
Grundsicherung Arbeitsuchender (ARGE) in den vergangenen Monaten dazu
aufgefordert, entweder Mietkosten zu senken oder in eine günstigere Wohnung
umzuziehen. Etwa 200 davon haben daraufhin ein ärztliches Attest vorgelegt,
dass sie aus gesundheitlichen Gründen nicht umziehen können. Deshalb
sollen sie nun von einem Amtsarzt auf ihre Umzugstauglichkeit hin
überprüft werden.
200 Fälle für den Amtsarzt. Heide
Ott, Sozialamtsleiterin in Bochum, brachte diese Zahl am vergangenen Donnerstag
bei einer Podiumsdiskussion im dortigen Gewerkschaftshaus in Umlauf. Die ARGE
hält sich jedoch bedeckt: "Ich will das weder bestätigen, noch
dementieren", sagt Stephan Kuckuk. Der ARGE-Sprecher räumt allerdings ein,
dass jeder, der ein Attest vorlege, noch einmal beim Amtsarzt vorstellig werden
muss. Der jeweilige Sachbearbeiter könne so ein Attest schließlich
nicht alleine beurteilen, so Kuckuk.
Mit dieser Vorgehensweise ist
Bochum allein auf weiter Flur. In anderen Städten werden Atteste zwar auch
durch Amtsärzte geprüft, doch nur vereinzelt: "Wir haben bloß
eine handverlesene Anzahl zum Amtsarzt geschickt", sagt zum Beispiel der Leiter
der Düsseldorfer ARGE, Peter Lorch. Und Jürgen Krisement von der ARGE
in Gelsenkirchen sagt, dass es für die Überweisung zum Amtsarzt keine
"Pauschalrichtlinie" gebe. Es komme immer auf den jeweiligen Einzelfall
an.
Aber wann ist man überhaupt umzugsuntauglich? Und was passiert
dann? Auch dies ist stets im Einzelfall zu entscheiden. Wer seit Jahren mit
seiner Bandscheibe kämpft, kann nicht gezwungen werden, Kisten zu
schleppen. Dann fordert die ARGE, so der Bochumer Sprecher Kuckuk, dass der
Betroffene den Umzug mit Hilfe von Nachbarn und Verwandten organisiert. Klappt
auch das nicht, werden die Kosten für ein Umzugsunternehmen von der ARGE
getragen. Schwieriger wird es im Fall einer psychischen Störung in Folge
eines Umzugs. Denn auch das kann sein: Dass jemand einen Schaden davon tragen
würde, müsste er sein Lebensumfeld verlassen, in dem er schon seit
vielen Jahren lebt.
Für Rose Richter von der
Arbeitsloseninitiative Werkschlag ist die Verfahrensweise der Bochumer
Verwaltung nichts Neues. Zur kollektiven Überweisung zum Amtsarzt sagt sie:
"In Bochum wird viel zu oft pauschalisiert und nicht das individuelle Schicksal
betrachtet." Sie habe schon in der Vergangenheit die Erfahrung gemacht, dass in
der Ruhrgebietsstadt sehr rigide mit Arbeitslosen umgegangen werde. Nicht
seitens der Politik, sondern seitens der Verwaltung. Und dass die Menschen
überhaupt umziehen sollen, dafür findet Richter dann bloß ein
einziges Wort: "entwürdigend".
BORIS R.
ROSENKRANZtaz NRW Nr. 7926 vom 20.3.2006, Seite 1, 96
TAZ-Bericht BORIS R. ROSENKRANZ
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