Gestern fand in Madrid womöglich die erste politische
Protestkundgebung statt, die über SMS und Websites organisiert wurde: Neue
Protestformen gegen die Desinformation
Quelle: Telepolis
Flashmobs gegen die spanische RegierungFlorian
Rötzer 14.03.2004 Gestern fand in Madrid
womöglich die erste politische Protestkundgebung statt, die über SMS
und Websites organisiert wurde: Neue Protestformen gegen die Desinformation
Bei den großen Kundgebungen am Samstag gegen den Terror
wurden bereits Stimmen gegen die regierende Volkspartei PP laut. Immer wieder
wurde die Frage an die spanische Regierung gestellt: "Wer ist es gewesen?" oder
ihr vorgeworfen: "Euer Krieg, unsere Toten!" Die spanische Regierung versuchte
zunächst die Täter der Anschläge der ETA zuzuordnen. Waren es
islamistische Täter, wie sich nun zunehmend erhärtet, dann geriete
damit die Politik des scheidenden Regierungschefs Aznar ins Visier, der mit
seinem Schulterschluss mit US-Präsident Bush Spanien zum Ziel von
islamistischen Terroristen gemacht hat. Spontan gab es gestern Abend in Madrid,
aber auch in anderen Städten wie Barcelona, Santiago de Compostela, Bilbao
oder Sevilla vor den Parteigebäuden der Volkspartei Kundgebungen.
Möglicherweise die ersten Kundgebungen, die über SMS, Chats und
Websites zustande kamen.
gestern
in Madrid vor der Parteizentrale der PP. Bild von dieser eilig ins Web
gestellten Seite [1]
In Madrid versammelten sich ab etwa 18
Uhr immer mehr Menschen vor dem Gebäude der regierenden Volkspartei PP,
nachdem ab 14 Uhr 30 SMS-Aufrufe versendet [2] wurden. Bekanntlich waren
an die 90 Prozent der Spanier gegen eine Beteiligung ihres Landes am Irak-Krieg.
Nachdem schon recht bald die Taktik der spanischen Regierung durchschaubar war,
mit allen Mitteln kurz vor den Wahlen den Verdacht für die Anschläge
auf die ETA und damit weg vom Thema Irak-Krieg zu lenken, verlangten bereits
Teilnehmer an den Massendemonstrationen, dass die Regierung endlich die Wahrheit
sagen solle (
Terror vereint -
und wird von der spanischen Regierung instrumentalisiert).
Das Misstrauen, falsch informiert zu werden, ist groß - und gehört
spätestens seit dem 11.9. zu einer Grundschicht des öffentlichen
Bewusstsein gegenüber Regierungen und Medien. In Spanien werden zudem viele
Fernsehsender, allen voran der staatliche Sender Sender TVE - auch "Tele-Aznar"
genannt - von den Konservativen kontrolliert. Cadena Ser warf der Regierung und
den mit ihr verbundenen Medien denn auch Manipulation [3] vor, wie sie
teilweise auch von El Pais bestätigt [4] wurde:
Die
Regierung von Aznar hat alle öffentlichen Kommunikationsmedien und alle
privaten Medien, die der Regierung ideologisch nahe stehen, eingesetzt, um drei
Tage lang die eine These von der Urheberschaft der ETA an den brutalen
Anschlägen am Donnerstag in Madrid aufrechtzuerhalten. Aznar und die
Regierung haben sich persönlich eingeschaltet und sich an die Direktoren
der nationalen Printmedien und die ausländischen Korrespondenten
gewandt.
Schon sehr früh berichteten allerdings die spanischen Medien, auch die
regierungsnahe Tageszeitung El Mundo [5], über die sich schnell
vergrößernde Menge vor dem durch die Polizei abgeriegelten
Parteigebäude der PP. Gefordert wurde u.a. : "Schluss mit der
Manipulation!" oder "Vor der Wahl wollen wir die Wahrheit!" Über SMS,
Websites [6] und Mund-zu-Mund-Propaganda trafen immer weitere Menschen ein.
Aufgerufen wurde dazu, sich ab 18 Uhr vor dem Parteisitz zu versammeln.
Ausdrücklich wurde auch verlangt, die Parteipolitik außen vor zu
lassen: "A las 6. Sede PP, calle Génova, sin partidos silencio por la
verdad." Indymedia Madrid [7] sprach auch deshalb davon, dass hier die
"Zivilgesellschaft" aufbegehre.
¿Qué partido
democrático? Hemos salido a la calle porque estamos hartos de que nos
mientan Ni PSOE, ni IU, ni ningún otro partido nos ha comandado, y si lo
hubieran organizado no habríamos ido
...just some flesh caught
in this big broken machine.
Forumskommentar vom 14. März um 3 Uhr 52
in der Früh
Bis 23 Uhr waren es schon an die 5.000 Personen.
Zunächst hatte die Polizei versucht, die Kundgebung zu zerstreuen und die
Teilnehmer zu zwingen, ihre Ausweise zu zeigen. Mariano Rajoy, Spitzenkandidat
der PP, saß zusammen mit der Parteiführung im umlagerten Gebäude
fest. Er bezeichnete die Kundgebung als "illegal" und "undemokratiosch" und
heizte damit die Stimmung wohl noch weiter an. Überdies
bezichtigten [8] Regierungsmitglieder die Opposition, vor allem die
Sozialisten, die "Belagerung" der Parteigebäude im Land organisiert zu
haben, was diese aber ebenso wie Teilnehmer an den Kundgebungen
zurückwiesen. Ab 23 Uhr zogen Tausende weiter vom Parteigebäude zum
Bahnhof Atocha, wo sie sich mit einem anderen Demonstrationszug verbanden. Um 3
Uhr früh löste sich die friedliche Kundgebung auf. Mehrere Hundert
blieben weiter vor dem Parteigebäude.
Auch wenn Flashmobs, von
Howard Rheingold enthusiastisch als neue Bewegung im mobilen Zeitalter
gepriesen, von Anfang an situationistische Elemente und damit politische
Züge oder gar "revolutionäres Potenzial" zugesprochen wurden, blieben
sie in aller Regel doch eher eine Art Unterhaltung über die Inszenierung
möglichst absurder Aktionen. Flashmobs kommen dadurch zustande, dass auf
Websites, in Newsgroups oder Email-Kettenbriefen ein Vorschlag gemacht wird, wo
man sich zu welcher Zeit treffen soll, um eine bestimmte Aktion
auszuführen. Meist versammeln sich plötzlich einige Menschen, manchmal
auch Hunderte, machen schnell etwas und lösen sich wieder in Nichts auf.
Heute wurde in diesem Stil etwa für Berlin vorgeschlagen:
Wie
wäre es wenn wir uns alle am U-Bhf Zoologischer Garten treffen (vor Mc
Donalds) und jeder kauft sich einen Döner daneben und dann gehen alle mit
dem Döner zu Mc Donalds, setzen sich gemütlich hin und essen ihn
:-)
Nach einer eigentlich kurzen Blüte der Flashmobs im
letzten Sommer wurde es um diese spontanen Verabredungen über die
Telekommunikationsmittel von Unbekannten an einem Ort wieder ruhiger. Nachdem
der Hype vorbei ist, könnten die Flashmob-Kundgebungen in Spanien jedoch
den Beginn von neuen Protestformen darstellen. Sie werden nicht mehr organisiert
von Gruppen, sondern können auch von einzelnen initiiert werden, da sie die
viralen und blitzschnellen Verbreitungsformen von Informationen über die
Kommunikationsmedien nutzen. Sie werden auch nicht lange vorher vorbereitet und
damit auch nicht angemeldet, sondern finden relativ spontan und zu punktuellen
Anlässen statt.
Aus Flashmobs könnten zwar auch wieder
politische Bewegungen traditioneller Art entstehen, aber in der Regel werden die
smart mobs [9] (Rheingold) nur ein Aufscheinen von neuartigen Gruppen sein,
die ebenso schnell wieder zerfallen wie sie sich bilden. Möglicherweise
sind sie eine Folge des wachsenden Misstrauens in die (Partei)Politik und die
großen Medien, vielleicht auch insgesamt in starre Strukturen, für die
Selbsterhaltung primär ist. Sie könnten aber die rasant ablaufenden
Informationsverbreitungs- und Meinungsbildungsprozesse in den realen Raum
tragen, die sich derzeit oft unter Unbekannten auf Websites, in Foren,
Newsgroups, Chat-Räumen oder Weblogs (
Medienrevolution
oder Tagebücher) herstellen und so die virtuellen
Öffentlichkeiten auch über große Entfernungen hinweg im
geografischen oder zumindest urbanen Raum verankern. Auch die Demonstrationen
gegen den Irak-Krieg, die weltweit stattgefunden haben, wären ein Teil
dieser neuen Kollektive(
Die erste
globale oder planetare Demonstration).
Links
[1] http://manipuladores.webcindario.com
[2]
http://barrapunto.com/article.pl?sid=04/03/13/1834211&mode=nested
[3]
http://www.cadenaser.com/articulo.html?d_date=&xref=20040314csrcsropi_1&type=Tes&anchor=csrcsrpor
[4] http://www.escolar.net/MT/archives/000658.html#more
[5]
http://www.elmundo.es/elmundo/2004/03/13/espana/1079200520.html
[6]
http://acp.sindominio.net/article.pl?sid=04/03/13/127244&mode=thread&threshold=0
[7] http://acp.sindominio.net/
[8]
http://www.abc.es/abc/pg040314/actualidad/nacional/politica/200403/14/rajoy.asp
[9] http://www.smartmobs.com/index.html
Telepolis Artikel-URL:
http://www.telepolis.de/deutsch/inhalt/te/16961/1.html