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Querbeet :: aktuell

Italien: Love-Parade von links

junge Welt vom 08.11.2004
Tag des direkten sozialen Konflikts: In den Straßen Roms tanzten am Sonnabend 70000 Menschen gegen Verarmung und Ausgrenzung. Grundeinkommen für alle gefordert
Besetzte Züge, blockierte Supermärkte und wummernde Bässe. In Rom haben am Samstag rund 70000 Italiener an der Street Parade der prekär Beschäftigten teilgenommen. Zeitgleich mit den Protesten gegen »Hartz IV« vor der Bundesanstalt für Arbeit in Nürnberg machten auch die sozialen Bewegungen in Italien mobil. Den Demonstrationszug in der italienischen Hauptstadt organisierten Basisgewerkschaften, Arbeitslosenverbände und verschiedene linke Gruppen, die sich im »Netzwerk Grundeinkommen« zusammengeschlossen haben. Der Aktionstag sollte die Forderung nach einem gesicherten Auskommen für alle Menschen in Italien unterstreichen und die rasante Verarmung großer Teile der Bevölkerung deutlich machen. Die Organisatoren wollen ein »soziales Grundeinkommen« für alle Menschen in Italien durchsetzten.

»Es geht nicht nur um Protest. Heute ist ein Tag des direkten sozialen Konfliktes«, kommentierte Francesco Raparelli, einer der Veranstalter und Sprecher der Disobbedienti (Ungehorsame) an der römischen Universität. Tatsächlich hatte die Protestparade wenig mit einer klassischen Demonstration gemein. Die italienischen Aktivisten haben beschlossen, sich an diesem Samstag zu nehmen, was ihnen ansonsten vorenthalten wird. »Wir fordern unsere sozialen Rechte ein, indem wir holen, was uns zusteht«, so Luca Casarini, der Sprecher der Disobbedienti aus Nordostitalien, gegenüber jW. »Das fängt schon an bei der Mobilität.«

siehe auch: Gespräch mit Angelo Pedrini - »Auskommen für alle, Krieg für niemanden« - Italiens Basisgewerkschaften und junge Prekäre gehen gemeinsam auf die Straße.

 

Ohne Ticket zur Demo

Bereits am Freitag abend wurden in vielen Städten der Apenninenhalbinsel die Züge nach Rom besetzt. Die Netzwerke der Prekären hatten den »St.Precario-Expreß« ausgerufen. »Es ist unser Recht, uns frei zu bewegen«, so Casarini, »wir akzeptieren die unbezahlbaren Preise der Bahn nicht.« In den Bahnhöfen von Mailand und Bologna gab es deswegen Auseinandersetzungen mit der Polizei. Doch schließlich setzten die Aktivisten durch, daß mit insgesamt sieben Gratis-Zügen einige tausend Menschen aus dem ganzen Land zu den Protesten nach Rom fahren durften, ohne Tickets zu lösen.

Auch der Protestzug, der sich am Wochenende in der italienischen Hauptstadt bildete, erinnerte eher an einen fröhlichen Umzug denn an eine politische Demonstration. Die »centri sociali«, besetzte Zentren aus ganz Italien, hatten einige Dutzend Lautsprecherwagen zu mobilen Diskotheken umgebaut. Sogar Live-Bands spielen zwischen den Aktivisten. Rote Fahnen und Transparente wiegen sich im Takt von lauter Techno- und HipHop-Musik. Einige junge Menschen tragen vor der Menge eine lebensgroße Figur mit sechs Armen auf der Schulter. Das Wesen soll St. Precario darstellen, den Schutzheiligen der prekär Beschäftigten. Bei aller Ironie machen die Protestler immer wieder klar, wie ernst ihr Anliegen ist. An der Spitze des Zuges werden zwei Spruchbänder getragen: »Nein zur Prekarität« und »Auskommen für alle, Krieg für niemanden«. Vor allem junge Menschen in Italien werden gezwungen, sich mit ungesicherten Beschäftigungsverhältnissen und Gelegenheitsarbeiten durchzuschlagen. »Die kapitalistische Ausbeutung hat eine neue Form angenommen. Die Prekarisierung raubt uns immer mehr Rechte und Lebensqualität«, so Luca Casarini.

Wiederaneignung in Rom

Einen großen Demonstrationsblock bilden die Arbeitslosenorganisationen aus Neapel. Sie kämpfen in ihrer Stadt schon seit einigen Wochen mit Straßenblockaden für ein öffentliches Beschäftigungsprogramm. Auch die italienischen Grünen und die Kommunisten haben zu der Protestparade aufgerufen. Paolo Ferrero, arbeitspolitischer Sprecher der Partei der kommunistischen Wiederbegründung: »Die Demonstration ist ein wichtiger Schritt für die sozialen Proteste in diesem Herbst.«

Am Rand des Umzuges kommt es immer wieder zu Aktionen, die die italienischen Aktivisten »Riaproppiazione« nennen – Wiederaneignung. Die Ware, die vor einer Buchhandlung ausliegt, wird unter die Passanten verteilt. Dazu verschenken die Disobbedienti Tausende Raubkopien von Michael Moores Film »Fahrenheit 9/11«. Am Samstag vormittag hatten bereits rund tausend Menschen in einem römischen Supermarkt gegen die galoppierende Verteuerung der Waren protestiert. Sie blockierten für zwei Stunden die Kassen und forderten 70 Prozent Rabatt. Solche Aktionen waren in den 70er Jahren in Italien weit verbreitet und wurden »proletarischer Einkauf« genannt. Auch diesmal gelingt es den Protestlern, einige vollgepackte Einkaufswagen an Polizei und Kassierern vorbeizudrücken. Die Lebensmittel werden vor dem Supermarkt verteilt.

(Siehe auch Interview mit Angelo Pedrini)

Protestagenda: Italiens heißer Herbst

Auch nach dem Aktionstag der prekär Beschäftigten sollen die sozialen Proteste in Italien weitergehen. Eine kleine Übersicht über die Initiativen gegen die Politik von Ministerpräsident Silvio Berlusconi:

* Der »No-Moratti-Day«

Bereits am 15. November werden wieder Großdemonstrationen durch Rom ziehen. Für diesen Tag rufen alle italienischen Gewerkschaftsverbände zu einem landesweiten Streik der Lehrer auf. Gefordert werden Lohnerhöhungen um acht Prozent, feste Arbeitsverträge und stärkere Investitionen in das öffentliche Schulwesen. Die linken Basisgewerkschaften haben den Protesttag zum »No-Moratti-Day« erklärt. Die konservative Bildungsministerin Letizia Moratti treibt die Privatisierung der Schulen und Universitäten voran.

* Der Generalstreik

Zwei Wochen später sollen dann nicht nur die Schulen, sondern alle Betriebe im Land stillstehen. Am 30. November werden die drei Großgewerkschaften einen vierstündigen Generalstreik gegen den Haushaltsentwurf der Berlusconi-Regierung organisieren. In einer gemeinsamen Erklärung von CGIL, CISL und UIL heißt es: »Der Haushalt 2005 ist ungerecht, falsch und ungeeignet, um die Probleme des Landes anzugehen.« Die Arbeiterorganisationen verlangen Maßnahmen gegen Steuerhinterziehung, europaweite Besteuerung von Gewinnen am Finanzmarkt und eine Reduzierung der Rüstungsausgaben.

* Die vereinte Opposition

Für den 11. Dezember hat das neue Oppositionsbündnis »Große Demokratische Allianz« (GAD) eine Massenkundgebung in Rom angekündigt. Die erste gemeinsame Demonstration der Berlusconi-Gegner ist auf Initiative der Kommunisten entstanden, die dem Zusammenschluß trotz Kritik des linken Parteiflügels beigetreten sind. Auch diese Proteste richten sich offiziell gegen den Haushaltsentwurf der Regierung. Vor allem wird die Demonstration aber zum großen Comeback von Romano Prodi in der italienischen Politik. Der bisherige Präsident der EU-Kommission soll als Kandidat des Linksbündnisses 2006 gegen Berlusconi antreten.

 
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Adresse: http://www.jungewelt.de/2004/11-08/006.php

Posted: Mo - November 8, 2004 at 09:04 vorm.  
   
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