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Eine andere Welt ist möglich, ein anderer Kapitalismus nicht
SOZIALKRITIK IN ZEITEN DER KONTERREFORM Über Entsicherung und
Kannibalismus von Franz Schandl in:
www.freitag.de
Aus dem versicherten Subjekt wird das
verunsicherte und - da es ja irgendwie reagieren muss - das entsicherte. Vor
allem so genannte atypische Beschäftigungsverhältnisse bescheren uns
immer mehr prekäre Situationen. Das berechnende Subjekt kann sich auf
nichts mehr richtig verlassen, außer, dass es Ausgaben hat, die durch
Einnahmen zu decken sind. Nicht das Quantum ist oft das eigentliche Problem. Es
besteht vielmehr darin, dass die unmittelbare Korrespondenz sicherer Einnahmen
für notwendige Ausgaben ganz einfach nicht gegeben ist. Zu Monatsbeginn
einen bestimmten Betrag am Konto aufscheinen zu sehen, ist immer weniger
Menschen zu bieten. … Es ist nicht der freie Atem, den das
bürgerliche Subjekt - der so genannte freie Bürger - atmen darf, es
ist asthmatisches Hecheln. Die Angst unter die Räder zu kommen, wird
größer, es gilt daher schnell, schlau und verschlagen zu sein.
Entsichert meint aber mehr als verunsichert - entsichert heißt auch, dass
die flexiblen Subjekte permanent unter Spannung stehen, geladen sind, bereit
sein müssen zu schießen, zumindest am Markt andere abzuschießen.
Das Instrumentarium, das ihnen aufgezwungen wird, ist ein aggressives. Die
Kalaschnikow ist entsichert und bei einigen wird sie nicht nur im
übertragenen Sinne losgehen. Am Ende stehen dann kollektive Bandenbildung
oder individualisierte Amokläufer. Kann sich keine positive Perspektive
entwickeln, werden diese regressiven Tendenzen zunehmen, ja sich zur Barbarei
verallgemeinern. Eine andere Welt ist möglich, heißt daher, vor allem
negativ zu benennen, was in dieser anderen Welt nicht mehr möglich ist. Die
Abschaffung des Kapitalverhältnisses setzt den konsequenten Bruch mit der
Logik des Irrsinns voraus. Die Akzeptanz von Markt und Tausch, von Konkurrenz
und Verwertung ist zu stören und letztlich zu zerstören. Der
fetischistische Ballast muss weg.
Franz Schandl
Eine andere Welt ist möglich,
ein anderer Kapitalismus nicht
SOZIALKRITIK IN ZEITEN
DER KONTERREFORM Über Entsicherung und
Kannibalismus
Nichts wird in Zeiten allgemeiner Egomanie so
verhöhnt wie der Altruismus. Menschen, die sich nicht auf der
Siegerstraße befinden, sollen aus unserem Blickfeld verschwinden. Da jeder
sich selbst gehört, ist auch jeder für sich selbst verantwortlich. Ich
bin meiner mir mich. Nicht Solidarität oder zumindest Betroffenheit ist
angesagt, sondern in erster Linie Gleichgültigkeit oder im schlimmsten Fall
sogar offene Aggression: "Eure Armut kotzt uns an!" Solidarität war
zumindest in Ansätzen etwas, das auf ein Jenseits der zwänglerischen
Identität (Ich bin ich) verwies. Sie besagte, dass ich für die anderen
da bin, und sie für mich da sind. Auf der mikroökonomischen Ebene
wurde durch das Versicherungsprinzip sogar das Tauschprinzip gemildert. Der
Sozialstaat war aber stets nur Zusatz, nicht Gegensatz zum Markt oder gar
Vorwegnahme des Sozialismus, wie der alte Reformismus unterstellte. Er war immer
eine fragile Notlösung, nicht Selbstbestimmung war da angesagt, sondern
Versorgung durch staatliche Fürsorge. Eben weil die Gesellschaft keinen
solidarischen Bedürfnissen entsprochen hat, musste der Staat im Interesse
des Allgemeinen einspringen. Allerdings war dies nur in einigen wenigen reichen
Ländern des europäischen Westens und Nordens möglich. Der
Sozialstaat war ein dem Kapital integriertes und von ihm gespeistes, zeitlich
und räumlich begrenztes Phänomen. Er war Etappe, nie Ziel.
Man bleibt nur übrig, wenn dem anderen möglichst wenig
übrig bleibt
Der Verfall des Sozialen wird nun mehr oder
weniger fatalistisch hingenommen. Man glaubt, sowieso nichts machen zu
können. Nach der ersten Aufregung verpufft der Widerstand. Das Wehren
verunglückt meist im Anfangsstadium, vor allem an den antiquierten
Vorstellungen und Anstalten. Derweil droht zugespitzter marktwirtschaftlicher
Konkurrenzismus: Jeder gegen jeden! Der soziale Kannibalismus hat Hochsaison.
Marktteilnehmer sind darauf abgerichtet, sich eben nicht nur als Arbeits- und
Markt-, sondern auch als Sozialkonkurrenten zu verhalten. Man bleibt nur
übrig, wenn dem anderen möglichst wenig übrig bleibt. Das
Leistungsprinzip oder besser die Ökonomie der Ausgrenzung reproduziert
ausgrenzende Individuen. Wem nehmen wir etwas weg?, ist deren vorrangige Frage.
Was ich will, gesteh ich keinem andern zu, lautet der asoziale Imperativ. Dieses
leistungsbezogene Credo inszeniert sich freilich als unerschütterliche
Größe: Wer will, der kann. Und wer nicht kann, will nicht. Ist ein
Saboteur. Ein Schmarotzer. Ein Parasit. Wir wollen auf unsere Kosten kommen,
aber niemand darf auf unsere Kosten leben. Vom sozialdarwinistischen Topos zur
rassistischen Verachtung ist es dabei nur ein kleiner Schritt. Die Verfolgung so
genannter Interessen der Eigenen ist die Verfolgung der Anderen, so das
bürgerliche Kernprinzip des Rassismus. Die Frage lautet also: Wer bleibt
über? Wer frisst wen? Konkurrenz verschärft sich zum Kannibalismus:
Und das ist bestechend logisch, denn solange die Fetische bürgerlicher
Verkehrsverhältnisse unberührt bleiben, steht nicht die Machbarkeit im
Zentrum, sondern stets die Finanzierbarkeit. Die
Rette-sich-wer-kann-Mentalität (die Fortsetzung von "Jeder ist seines
Glückes Schmied") entpuppt sich als das Vorhaben beim gemeinsamen Untergang
des kapitalistischen Bootes als Letzter oder doch zumindest später
dranzukommen. Und wenn die anderen absaufen, an uns ist es noch nicht, an uns
liegt es auch nicht, wir verhalten uns ganz normal. So helfen wir in diesem
Spiel der beschleunigten Exklusion praktisch mit, unzählige über Bord
zu werfen, bevor wir selbst an der Reihe sind. Es erscheint als das
Selbstverständlichste auf der Welt. Kannibalistische Konkurrenz gibt es
natürlich nicht nur als Individuum gegen Individuum, Betrieb gegen Betrieb,
Supermarkt gegen Supermarkt, Standort gegen Standort, Staat gegen Staat, sondern
zunehmend auch als ein irres Gerangel öffentlicher Körperschaften um
die Beute am Bürger. Gelegentlich kommt es da freilich zu kleinen und
größeren Havarien. Drängt man die Leute aus dem
Arbeitslosenbezug, explodiert die Sozialhilfe, erhöht man die
Krankenversicherung, muss das Finanzamt passen. Vice versa. Zwingt man die Leute
länger zu arbeiten, entlastet man die Pensionsversicherung, aber man
belastet die Arbeitslosenversicherung und Krankenversicherung. Für Junge
wird der Arbeitsmarkt zusätzlich verstopft. Die öffentlichen
Institutionen benehmen sich tendenziell wie kleine, outgesourcte marodierende
Banden, die nicht bloß ihren Kunden ans Fell wollen, sondern auch danach
trachten müssen, anderen Banden die fälligen Tribute abzujagen. Zwingt
man die Leute ins neue Unternehmertum, dann sinken zwar die Zahlen der
Arbeitslosen und die Kosten für die Arbeitslosenversicherung, aber es
sinken auch die Einnahmen der öffentlichen Hand durch die Steuern. Wie will
man effektiv die Abschreibeposten der vielen kleinen selbstständigen Fische
überprüfen? Was bei den Großen nicht gelingt, gelingt auch im
Kleinen nicht. Dazu bräuchte man einen Polizeistaat, der wiederum in dieser
Form nicht leistbar wäre. Aber eigentlich spricht man über solcherlei
nicht. Insgesamt gleicht der Staat inzwischen einer Maschine, die ihre "besten"
Jahre längst hinter sich hat. Schon die inflationäre
Gesetzesproduktion der öffentlichen Körperschaften demonstriert die
Reparaturbedürftigkeit. Eine Havarie jagt die nächste, und das nicht
mehr nachkommende Flickwerk der Reformen verdichtet sich zum Reformstau.
Verstärkt man ein schwaches Rädchen, brechen woanders zwei, erneuert
man gar den Motor, dann hält das Werkel die Geschwindigkeit nicht durch.
Die Kalaschnikow ist entsichert und bei einigen wird sie
losgehen
Aus dem versicherten Subjekt wird das verunsicherte und
- da es ja irgendwie reagieren muss - das entsicherte. Vor allem so genannte
atypische Beschäftigungsverhältnisse bescheren uns immer mehr
prekäre Situationen. Das berechnende Subjekt kann sich auf nichts mehr
richtig verlassen, außer, dass es Ausgaben hat, die durch Einnahmen zu
decken sind. Nicht das Quantum ist oft das eigentliche Problem. Es besteht
vielmehr darin, dass die unmittelbare Korrespondenz sicherer Einnahmen für
notwendige Ausgaben ganz einfach nicht gegeben ist. Zu Monatsbeginn einen
bestimmten Betrag am Konto aufscheinen zu sehen, ist immer weniger Menschen zu
bieten. Prekär heißt nun nicht, dass alle schlechter gestellt werden,
aber sehr wohl, dass die Gewissheit als bestimmte Größe im Abnehmen
begriffen ist. Empirisch könnte einem zur Entsicherung folgendes einfallen:
Verfall regelmäßiger Zahlungen; eine hohe Fluktuation beim Einkommen;
Zahlungsverzögerung und Nichtzahlung bedingen demütigende
Bittstellerei und Mahnwesen. So tappt eins oft in die Schuldenfalle, nicht weil
eins partout zu wenig verdient, sondern die Außenstände so groß
sind. Die auswärtige Nichtzahlung führt zu eigenen Nichtzahlungen
(interessant wären Studien, die das formelle wie das informelle Mahnwesen,
diese Seuche absolut unproduktiven Daseins, von seiner zeitlichen Dimension und
seiner destruktiven Potenz her untersuchten); es gibt immer mehr
Vertragsunsicherheit, führen doch die neuen Arbeits- und
Dienstverhältnisse zur Entsorgung des Kollektivvertrags, der durch
individuelle Abmachungen rein privatrechtlicher Natur ersetzt wird; die
Handschlagqualität ist im Verschwinden, das Vertrauen wird brüchig,
denn jeder Geschäftspartner ist argwöhnisch zu verdächtigen,
selbst wenn es ein guter Freund ist; das System der Selbstbehalte bindet gewisse
Leistungen direkt an die Verwertungspotenz der zu Bedienenden, das heißt,
bestimmte Leistungen gibt es nur, wenn sie der Betroffene auch zahlen kann, und
so weiter. Entsicherte Subjekte jedenfalls können nur überleben, wenn
sie selbst beinhart agieren. Wollen sie von den (neuen) Märkten nicht
ausgespuckt werden, müssen sie sich zu kleinen Konkurrenzmonstern
entwickeln. Es ist nicht der freie Atem, den das bürgerliche Subjekt - der
so genannte freie Bürger - atmen darf, es ist asthmatisches Hecheln. Die
Angst unter die Räder zu kommen, wird größer, es gilt daher
schnell, schlau und verschlagen zu sein. Entsichert meint aber mehr als
verunsichert - entsichert heißt auch, dass die flexiblen Subjekte permanent
unter Spannung stehen, geladen sind, bereit sein müssen zu schießen,
zumindest am Markt andere abzuschießen. Das Instrumentarium, das ihnen
aufgezwungen wird, ist ein aggressives. Die Kalaschnikow ist entsichert und bei
einigen wird sie nicht nur im übertragenen Sinne losgehen. Am Ende stehen
dann kollektive Bandenbildung oder individualisierte Amokläufer. Kann sich
keine positive Perspektive entwickeln, werden diese regressiven Tendenzen
zunehmen, ja sich zur Barbarei verallgemeinern. Eine andere Welt ist
möglich, heißt daher, vor allem negativ zu benennen, was in dieser
anderen Welt nicht mehr möglich ist. Die Abschaffung des
Kapitalverhältnisses setzt den konsequenten Bruch mit der Logik des
Irrsinns voraus. Die Akzeptanz von Markt und Tausch, von Konkurrenz und
Verwertung ist zu stören und letztlich zu zerstören. Der
fetischistische Ballast muss weg.
Wir alle sind Schuldige und
Unschuldige, im Prinzip aber Funktionäre des Kapitals
Das
konventionelle Vokabular, dieser ganze Gerechtigkeits-, Sachlichkeits- und
Umverteilungssermon, sollte gleichfalls entsorgt werden. "Soziale Gerechtigkeit
ist das Thema der Stunde" schrieb dieZeit am 28. Mai 2003. Ja, leider.
Anstatt über die reichhaltigen materiellen und ideellen Portionierungen zu
reden, streiten wir noch immer über die adäquaten Proportionierungen
entlang der Verwertungsschiene. Es ist schon ärgerlich, dass den
Intellektuellen nichts anderes einfällt als der Griff in die Mottenkiste.
Wieder einmal ertönt der Ruf nach (mehr) Fairness, als ob gerade die uns
fehlen würde. Auch Reizvokabeln wie "Skandal", "Schuldige", "Opfer",
"Täter" führen auf Abwege. Die Politik der identitätslogischen
Zuweisung ist zu überwinden. Wir alle sind - wenn auch in unterschiedlichem
Ausmaße - Opfer und Täter, Schuldige und Unschuldige, im Prinzip aber
Funktionäre des Kapitals. Diese Struktur ist aber keine Natur, auch wenn
sie als zweite Natur erscheint. Sie verfügt über uns, nicht nur weil
wir uns fügen, sondern sie mit unseren Handlungen und Überzeugungen
stets neu hervorbringen. Wir müssen allerdings Abstand von der Vorstellung
gewinnen, die andere Welt sei nur gegen irgendwelche Andere durchsetzbar. Vor
allem die unentwegte personelle Zuweisung bringt die Leute nicht zusammen,
sondern hetzt sie gegeneinander auf. Nicht die Befreiung von uns formierenden
Formprinzipien steht dann an, sondern der Kampf der formbestimmten Interessen.
Das Böse kennt eben nicht Name, Anschrift und Gesicht, wie Bertolt Brecht -
ganz Kind seiner Zeit - einmal meinte, sondern bloß Logik und Vorschrift.
Und wir sind die, die diese Logik und Vorschrift abzuschaffen haben. Nicht mehr,
aber auch nicht weniger. Dahinter beginnt dann eine ganz andere Geschichte.
Emanzipatorisches Setzen setzt Selbstkritik voraus. Wir fordern somit nicht
Erfüllung, sondern Distanz von der eigenen Charaktermaske. Die Leute sollen
sich ernster nehmen als ihre Rollen. Das Rollen-Ich - Dividuum nannte es
Günther Anders - ist zu durchbrechen, will überhaupt so etwas wie
Individuum ermöglicht werden. Ganz kategorisch gilt es zu sagen: Leben und
Kapitalismus sind unvereinbar. Eine andere Welt ist möglich, ein anderer
Kapitalismus nicht. Die neue oder notwendige Sozialbewegung wird sich daran
messen lassen müssen, ob sie diese Radikalität zulässt oder sich
einmal mehr in den Schützengräben des bürgerlichen Kontinuums
verkriecht. Wenn sie nicht darüber hinauskommt, mit den "edlen" Werten der
kapitalistischen Warengesellschaft gegen die kapitalistische Realität zu
revoltieren, wird sie ein obligates Schicksal ereilen. Sie affirmiert dann ja
bloß, was sie vermeintlich angreift, tut so, als hätte das Eine mit
dem Anderen nichts zu tun. Der Kommunismus ist nur zu haben als eine
planetarische Assoziation befreiter Individuen. Wobei Freiheit Freiheit von
fetischistischer und verdinglichter Form bedeutet. Befreiung meint frei sein vom
Wert und seinem ganzen Rattenschwanz, dem beschränkten Universum, das sich
als ewig missversteht: Recht und Demokratie, Politik und Staat, Ökonomie
und Ideologie, Tausch und Markt. Das wäre doch mal was anderes.
Franz Schandl lebt als Historiker und Publizist in Wien, schreibt
seit 1994 für denFreitag. 1996 veröffentlichte er gemeinsam mit
Gerhard Schattauer die Studie Die Grünen in Österreich. Entwicklung
und Konsolidierung einer politischen Kraft, Wien Promedia.
Posted: Di - Januar 27, 2004 at 10:48 vorm.
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