Hinweis: FTD kritisiert Mythen der StaatsverschuldungEine
Kreditaufnahme kann die Schuldenlast senken. Höhere Schuldenlasten gehen
keineswegs immer auf Kosten künftiger Generationen. Auch bei hoher
Verschuldung können zusätzliche Impulse die Konjunktur ankurbeln. Im
internationalen und historischen Vergleich sind die deutschen Schulden nicht auf
einem übermäßig hohen Niveau. Das schreibt Sebastian Dullien in
der Financial Times Deutschland v. 12.5.05
Kolumne: Die
Mythen der Staatsverschuldungvon Sebastian Dullien
In
Deutschland gelten Staatsdefizite als Teufelszeug - aus Unverständnis der
ökonomischen Logik.In
diesen Tagen kann man sich schon manchmal in den Film "Und täglich
grüßt das Murmeltier" versetzt fühlen. Mit beängstigender
Präzision wiederholt sich jedes halbe Jahr ein Ereignis, aus dem die
Beteiligten keinen Ausweg zu finden scheinen: die Steuerschätzung.
Regelmäßig, wenn im Mai und November die Schätzer zusammenkommen,
ergibt sich ein neues Loch im Staatshaushalt, weil die Konjunktur schwächer
ausfällt als ursprünglich prognostiziert. Und immer folgen
vorhersehbar die Empfehlungen deutscher Ökonomen, doch gerade jetzt mehr zu
sparen, um die Neuverschuldung zu begrenzen.
In der nächsten Szene
gibt es dann eine öffentliche Debatte über den katastrophalen Zustand
der deutschen Finanzen und den bevorstehenden Staatsbankrott. Leitartikler und
Fernsehkommentatoren schließen sich den Forderungen der deutschen
Mainstream-Ökonomie nach neuen Einsparungen an. Dann kommt der Schnitt -
und ein halbes Jahr später geht das ganze Spiel von vorne
los.
Beeindruckend ist nicht nur die fehlende Lernfähigkeit der
Beteiligten, sondern auch, wie speziell deutsch sich die Debatte gestaltet.
Während in den USA höhere Defizite zwar auch ein politisch brisantes
Thema sind, fordert niemand bei schwächeren Steuereinnahmen gleich heftige
Sparprogramme. In Deutschland befürchtet man dagegen immer gleich den
Untergang des Abendlandes.
Fünf Mythen scheinen dabei in den
Köpfen der Deutschen derart verankert, dass eine rationale Debatte um die
Staatsdefizite derzeit kaum möglich scheint:
Mythos eins: Eine höhere Neuverschuldung erhöht automatisch
die Schuldenlast. Dieser Satz erscheint den meisten Menschen so
logisch, dass über ihn gar nicht mehr nachgedacht wird. Wenn man neue
Schulden aufnimmt, steigt natürlich die Schuldenlast, oder etwa nicht?
Tatsächlich ist für eine Volkswirtschaft nicht die Neuverschuldung an
sich von Bedeutung, sondern das Verhältnis von Gesamtschuldenstand zur
Wirtschaftsleistung. Wenn etwa die Wirtschaft um nominal vier Prozent
wächst (zwei Prozent reales Wachstum und zwei Prozent Inflation), kann sich
ein Land in alle Ewigkeit ein jährliches Haushaltsdefizit von 2,4 Prozent
des BIP leisten, ohne dass die Schuldenquote steigt.
In all jenen
Situationen, in denen höhere Defizite zu einem höheren Wachstum
führen, als es ohne die Neuverschuldung der Fall wäre, kann eine
Kreditaufnahme sogar langfristig die Schuldenlast senken. Derzeit könnte
solch eine Situation sein: Wegen des hohen Ölpreises steht Deutschland am
Rand der Rezession. Einige Ökonomen fürchten einen Absturz in die
dauerhafte Stagnation. Neue Einsparungen könnten jetzt reichen, die
Wirtschaft in diese Dauerkrise zu stoßen - und damit deutlich teurer werden
als ein paar Milliarden Neuverschuldung.
Mythos zwei: Defizite
sind schlecht, weil Regierungen freiwillig nie sparen werden.
Tatsächlich hat die US-Regierung von 1993 bis 2000 die Schuldenquote
ohne Stabilitätspakt oder Verfassungszwang um fast 20 Prozentpunkte
gesenkt. Unter Rot-Grün fiel Ende der 90er Jahre die Schuldenquote, ebenso
wie Ende der 80er Jahre unter Helmut Kohl.
Mythos drei:
Höhere Staatsschulden gehen immer auf Kosten künftiger
Generationen. Ob die höheren Staatsschulden für unsere
Kinder und Enkel wirklich nachteilig sind, hängt von den Alternativen ab.
Wenn etwa Ausgaben für Bildung, Forschung oder Investitionen in den
Straßenbau gekürzt werden, damit die Staatsverschuldung nicht steigt,
könnte dies ein Bärendienst sein. Die gesamtwirtschaftliche Rendite
von Bildungsausgaben ist üblicherweise deutlich höher als die Zinsen,
die der Staat auf seine Anleihen zahlen muss. Kaputte Straßen ziehen enorme
Folgekosten in Form höherer Ausgaben für Kfz-Reparaturen und
längerer Reise- und Lieferzeiten nach sich. Eine höchst profitable
Investition in die Zukunft nicht zu tätigen, bloß weil man dafür
(billigen) Kredit aufnehmen müsste, ist betriebswirtschaftlich wie
volkswirtschaftlich Unfug. In den USA haben sogar die Bürger diese Logik
verinnerlicht. Dort ist es ganz normal, für das Hochschulstudium hohe
Kredite aufzunehmen - weil sich die Bildung später
auszahlt.
Mythos vier: Die deutsche Finanzpolitik wirkt mit ihren
hohen Defiziten doch schon stark expansiv. Weitere Schulden können die
Konjunktur ohnehin nicht mehr ankurbeln. Tatsächlich sagt die
absolute Höhe des Defizits wenig darüber aus, wie stark die Konjunktur
gestützt oder gebremst wird. Dafür ist einzig der zusätzliche
Impuls, also die Veränderung des konjunkturbereinigten Defizits relevant.
Dieser bereinigte Fehlbetrag dürfte nach Prognose der EU-Kommission 2005 um
0,5 Prozent des BIP zurückgehen - die Finanzpolitik bremst also nach
aktueller Planung das Wachstum bereits spürbar. Übrigens ist dieses
Strukturdefizit seit 2001 praktisch nicht gestiegen. Während die
Finanzpolitik in den USA so die Konjunktur in der Krise nach dem 11. September
ankurbelte, kam vom deutschen Staat kein Impuls mehr.
Mythos
fünf: Wir können uns eine höhere Neuverschuldung einfach nicht
mehr leisten. Im internationalen und historischen Vergleich sind die
deutschen Schulden längst nicht auf einem übermäßig hohen
Niveau. Wir liegen derzeit unter den Werten in den USA in den 80er Jahren (siehe
Grafik). Das Beispiel Japans seit Anfang der 90er Jahre zeigt zudem, dass
für die Stabilität der Staatsfinanzen weniger hohe Defizite als eine
lange Stagnation und fallende Preise gefährlich sind. Das Einzige, was sich
Deutschland derzeit wirklich nicht leisten kann, ist ein Fall in die Deflation
mit anhaltend stagnierender Wirtschaft - gerade das aber könnte mit einer
rabiaten Sparpolitik herbeigeführt werden.
Das alles bedeutet
nicht, dass höhere Staatsschulden grundsätzlich gut sind oder
größere Defizite an sich schon wirtschaftliche Probleme lösen. Um
aber zu beurteilen, welche Neuverschuldung Deutschland in Kauf nehmen sollte,
sollte man sich besserer Argumente bedienen als irgendwelcher Mythen.
Aus
der FTD vom 12.05.2005
© 2005 Financial Times
Deutschland
http://www.ftd.de/me/cl/6597.html