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Die 30-Stunden-Woche für Europa

Im 21. Jahrhundert stehen Nachhaltigkeit und die gerechte Verteilung von Arbeit und Einkommen auf dem Plan / Von Mohssen Massarrat
Im Folgenden geht es um die Begründung einer Alternative, die bei Gewerkschaften und linken Parteien in Vergessenheit geraten zu sein scheint, nämlich um die Dringlichkeit von Arbeitszeitverkürzung und vielleicht auch darum, manche Tabus - wie ich hoffe - produktiv zu durchbrechen. Viele Details müssen dabei offen bleiben. Auf eine Begründung bekannter Sachverhalte wurde verzichtet.

Quelle: http://www.fr-aktuell.de/ressorts/nachrichten_und_politik/dokumentation/?cnt=358068

 

Die 30-Stunden-Woche für Europa
Im 21. Jahrhundert stehen Nachhaltigkeit und die gerechte Verteilung von Arbeit und Einkommen auf dem Plan / Von Mohssen Massarrat


Im Folgenden geht es um die Begründung einer Alternative, die bei Gewerkschaften und linken Parteien in Vergessenheit geraten zu sein scheint, nämlich um die Dringlichkeit von Arbeitszeitverkürzung und vielleicht auch darum, manche Tabus - wie ich hoffe - produktiv zu durchbrechen. Viele Details müssen dabei offen bleiben. Auf eine Begründung bekannter Sachverhalte wurde verzichtet.

Die Massenerwerbslosigkeit ist ein weltweites Phänomen. In den Industrieländern bewegt sich die Arbeitslosenrate in der Spannbreite von 3% (Luxemburg) bis 12% (Spanien). In den östlichen und südlichen Transformations- und Entwicklungsländern um 20% und deutlich darüber. Die Ursachen sind dabei nicht die selben: In den hoch entwickelten kapitalistischen OECD-Staaten gehören hohe Wachstumsraten der Vergangenheit an, sie bewegen sich seit Anfang der siebziger Jahre tendenziell unterhalb der Steigerungsrate der Arbeitsproduktivität. Das hohe Rationalisierungstempo als Folge des flächendeckenden Einsatzes von High-Tech und Kommunikationstechnologien kann durch die Mobilisierung von neuen Wachstumskapazitäten trotz erheblicher Anstrengungen nicht mehr aufgefangen werden. Hier wird immer mehr gesellschaftlicher Reichtum mit immer weniger lebendiger Arbeit produziert. Ganze Bevölkerungsschichten verlieren ihre Arbeit und werden auf Dauer vom Arbeitsprozess und vom Wirtschaftskreislauf abgekoppelt. In den Transformations- und Entwicklungsgesellschaften werden zwar sehr hohe Wachstumsraten erzielt und die Wachstumsressourcen werden für lange Zeit auch beträchtlich bleiben. Trotz hoher Wachstumsraten und Wachstumspotentiale herrscht auch hier Massenerwerbslosigkeit, weil die Aufnahmekapazität der Arbeitsmärkte dieser Gesellschaften nicht groß genug ist, um jenes beträchtliche neue Arbeitskräftepotential aus den noch nicht durchkapitalisierten Bereichen zu absorbieren.

Der Keynesianismus lieferte über mehrere Jahrzehnte in den OECD-Staaten wirkungsvolle Konzepte zur Eindämmung der Massenerwerbslosigkeit. Als Strategie zur Mobilisierung von Wachstumsressourcen war er während der Nachkriegsära in den Industriestaaten des Nordens mit ihren als unerschöpflich erscheinenden Wachstumskapazitäten in der Tat unschlagbar. Wo aber Wachstumsressourcen zur Neige gehen, das Rationalisierungstempo rasant ansteigt und extensive durch intensive Wachstumsstrategien abgelöst werden, verlieren keynesianische Instrumente auch hinsichtlich der Schaffung von Arbeitsplätzen ihre Durchschlagskraft. Dies ist m.E. der Hauptgrund für die Krise des Keynesianismus seit dem Beginn der achtziger Jahre und für die tiefgreifende Unsicherheit der Keynesianer aller Schattierungen gegenüber den neoliberalen Postulaten von Liberalisierung, Privatisierung, Deregulierung und Flexibilisierung. Bis heute befindet sich die keynesianische Beschäftigungspolitik in einer Defensive, aus der sie auch absehbar nicht heraus kommen dürfte.

Der Neoliberalismus verdankt seinen Siegeszug einerseits dem wirtschaftspolitischen Vakuum, das der Keynesianismus hinterließ und andererseits der anhaltend wachsenden globalen Massenerwerbslosigkeit. Neoliberale Heilsversprechungen zur Modernisierung der Industrie- und Entwicklungsgesellschaften haben sich nach über zwei Jahrzehnten neoliberaler Dominanz als pure Ideologie erwiesen. Herausgekommen ist dagegen, dass überall in der Welt Reiche reicher und Arme ärmer wurden. Der Neoliberalismus ist in der Tat eine Strategie der Reichtumsumverteilung und das bisher wirksamste Instrument, eine schmale Schicht der Superreichen auf dem Rücken von Milliarden Menschen noch reicher zu machen. Er ist eine Strategie des Nullsummenspiels, führt an einem Ort zu mehr Beschäftigung, weil an einem anderen Ort gleichzeitig Menschen ihre Arbeit verlieren, und er stimuliert Wachstum nur durch Verbilligung der Arbeit und der Natur, durch Überausbeutung menschlicher Arbeitskraft und natürlicher Lebensgrundlagen. Echte Modernisierungen - wo sie durch den Zerfall verkrusteter staatlicher wie nicht-staatlicher Strukturen tatsächlich stattfinden - sind allenfalls Nebeneffekte des Neoliberalismus, jedoch nicht dessen Hauptzweck.

Keynesianismus und Neoliberalismus haben beide keine wirksamen Konzepte, wie die Szenarien der Erwerbslosigkeit für den Zeitraum 1997-2010 belegen. Demnach wird z.B. in Deutschland selbst bei sehr optimistischen Wachstumsraten von jährlich 2,6 - 2,8% bis 2010 die Massenerwerbslosigkeit nicht abnehmen, weil für diesen Zeitraum Wachstumsraten der Arbeitsproduktivität zwischen 2,4 - 2,6% prognostiziert werden. Nur durch deutlich höhere Wachstumsraten kann jedoch mit einem Abbau der Erwerbslosigkeit gerechnet werden. Inzwischen wurden die prognostizierten Wachstumsraten durch die realen Wachstumsraten, die zwischen 1997-2003 deutlich unter 2% lagen, drastisch unterschritten. Höhere Wachstumsraten waren und sind also unrealistisch. Sie sind - selbst wenn sie erreichbar wären - auch aus ökologischen Gründen nicht wünschenswert. Ungeachtet der Problematik der ökologischen Wachstumsgrenzen können angesichts der weiterhin zu erwartenden Erhöhung der Arbeitsproduktivität und der wachsenden Erwerbslosigkeit auch Maßnahmen wie Förderung kommunaler Investitionstätigkeit, Impulse für den Binnenmarkt durch Steuersenkung, Förderung des Mittelstandes, Investitionsprogramme für die Modernisierung der Infrastruktur und der Umwelt, wie sie aus dem Kreis linker Sozialdemokraten und der Gewerkschaften als Alternative zur Agenda 2010 erhoben werden und so wichtig sie im Einzelnen auch sein mögen, bestenfalls die weitere Zunahme der Erwerbslosigkeit bremsen.


Der Kenynesianismus zielt auf Vollbeschäftigung, scheitert aber an Grenzen, die durch eine Wechselwirkung steigender Arbeitsproduktivität und sinkender Wachstumsressourcen hervorgerufen werden. Der Neoliberalismus braucht dagegen die Massenerwerbslosigkeit. Denn nur unter den Bedingungen dauerhafter Erwerbslosigkeit und der Schwächung der Kampfkraft der Gewerkschaften herrschen die politischen Rahmenbedingungen, die er braucht, um seine Strategie des Abbaus hart erkämpfter sozialer Errungenschaften durchzusetzen, Unternehmen und Staaten von ihrer sozialen Verantwortung zu entlasten, und einen globalen Lohnniedrigsektor zu etablieren. All dies dient der Aufrechterhaltung eines Systems, in dem die Mechanismen der Umverteilung von unten nach oben, von Süden nach Norden reibungslos funktionieren. Die von der neoliberalen Propaganda kräftig mitgeschürte Illusion, nur durch Senkung von Löhnen und Lohnnebenkosten könne die Erwerbslosigkeit wirkungsvoll bekämpft werden, bindet Parteien und Regierung in ein System ein, das die soziale Abwärtsspirale zementiert. In diesem System werden Regierungen gegen Gewerkschaften, Kommunen und Länder gegen den Bund, jüngere gegen ältere Generationen, Männer gegen Frauen und Inländer gegen Ausländer ausgespielt. Der Handlungsspielraum für die Zukunftsgestaltung, für Strategien zum ökologischen Umbau, Klimaschutz und globale Armutsbekämpfung werden auf Null reduziert. Reformen verlieren dabei auch begrifflich ihren gestalterischen Sinn und werden zu Maßnahmenbündeln des Sozialabbaus umdefiniert.

In diesem System erst einmal verhaftet, beginnen selbst Regierungen mit sozialökologischem Reformanspruch entgegen der eigenen Programmatik zu handeln und - wie die deutsche Bundesregierung - soziale Einschnitte, wie beispielsweise Lockerung des Kündigungsschutzes, höhere Arbeitnehmeranteile an den Gesundheitskosten und Erhöhung des Rentenalters, wider besseren Wissens als Reformprogramme zur Bekämpfung der Erwerbslosigkeit auszugeben. In diesem System herrscht längst die kulturelle Hegemonie des Neoliberalismus. Dieser definiert durch seine Postulate (Liberalisierung, Privatisierung, Deregulierung, Flexibilisierung, Wachstum und Beschäftigung durch Verbilligung von Faktorkosten Arbeit und Natur) den Rahmen und die Handlungsmechanismen, denen sich - solange sie innerhalb dieser Logik verharren - Sozialdemokraten, Gewerkschafter, Grüne, selbst sozialistische Parteien und auch weitsichtige Unternehmer, die echten Reformen offen gegenüber stehen, fügen müssen. Die Nöte und Sorgen der Menschen um ihre Zukunft, der Wunsch von Millionen Arbeitslosen nach Beschäftigung werden zur Legitimation von Scheinlösungen gegen die Erwerbslosigkeit instrumentalisiert. Wo die gesamten Denk- und Handlungskapazitäten von Gesellschaften auf Scheinlösungen und bestenfalls die Aufrechterhaltung des Status quo gelenkt werden, erledigen sich alle Anstrengungen für eine zukunftsfähige und gerechtere Welt von selbst.

Die nüchterne Analyse der ökonomischen und sozialpsychologischen Funktionsmechanismen der neoliberalen Hegemonie lässt unschwer erkennen, dass es den Reformkräften, die ernsthaft eine andere Welt anstreben, zuallererst darum gehen muss, die Handlungsfähigkeit und Definitionsmacht für echte Reformen zurück zu gewinnen und die neoliberale Hegemonie durch eine Allianz für eine sozial und ökologisch gerechte Welt zurückzudrängen. Das Projekt "30-Stunden-Woche bis 2010 für alle EU-Staaten" eignet sich m.E. aus vier wesentlichen Gründen als strategisches Projekt in dieser Perspektive:

·Erstens ist die 30-Stunden-Woche die einzig denkbare Alternative für den Abbau der Massenerwerbslosigkeit und trägt damit dem Wunsch von über 14 Millionen Arbeitslosen in der EU Rechnung.

·Zweitens ist das Projekt unter bestimmten Bedingungen gesellschaftlich auch akzeptanzfähig und konsensbildend. Es fördert die Bildung einer breiten gesellschaftlichen Allianz und ist daher realisierbar.

·Drittens verbessert es grundlegend die Voraussetzungen für den Aufbau einer gerechten Weltwirtschaftsordnung und die globale Armutsbekämpfung.

·Viertens ist das Projekt geeignet, dem Neoliberalismus eine wichtige, vielleicht die wichtigste sozialpsychologische Grundlage seiner kulturellen Hegemonie zu entziehen.

Der Erfolg dieses Projektes hängt allerdings entscheidend davon ab, dass besser verdienende Gruppen der Lohn- und Gehaltsabhängigen bereit sind, dafür einen Preis zu zahlen und ihre Partikularinteressen in einer ganzheitlichen Perspektive neu zu bewerten. Im Folgenden werden Probleme, Bedingungen und Folgen des Projektes grob umrissen:

1.Das Projekt 30-Stunden-Woche hätte unter den gegenwärtigen Rahmenbedingungen nur dann Aussicht, aus der Defensive heraus den notwendigen politischen Druck zu erzeugen, wenn es weitestgehend kostenneutral ist. Nötig wäre eine Ausgleichskomponente für die unteren Einkommensgruppen, die z.B. aus den eingesparten Kosten der Erwerbslosigkeit - sie betragen in Deutschland jährlich um ca. 100 Mrd. € - finanziert werden könnte. Damit wird einerseits den zu erwartenden massiven Kampagnen der Unternehmer der Wind aus den Segeln genommen. Andererseits wird der Einsicht Rechnung getragen, dass mit dem Ende des 20. Jahrhundert das Zeitalter des ökonomischen Wachstums und der Konsumsteigerung in den Industrieländern des Nordens endgültig vorbei ist. Auch ein Nullwachstum auf sehr hohem Niveau wie in Europa stellt eine große Herausforderung dar, die nicht klein geredet werden sollte. Im 21. Jahrhundert stehen Umverteilung und nachhaltige Entwicklung, d.h. globale, soziale und ökologische Gerechtigkeit, auf der Tagesordnung. Die Umverteilung der Arbeit muss daher mit einer Umverteilung des Einkommens innerhalb einzelner Länder und global einhergehen. Nur so erhält die Perspektive einer gerechteren Weltwirtschaftsordnung und Reformen globaler Institutionen(WTO, IWF, Weltbank) eine materielle und moralische Grundlage. Dies gilt umso mehr, als die bisher erzielten Wachstumszuwächse und Einkommenssteigerungen auch bei Lohn- und Gehaltsabhängigen in den Industrieländern auf Grund asymmetrischer Strukturen der Weltwirtschaft zum Teil aus diversen Süd-Nord-Umverteilungsprozessen herrühren , wie dem unfairen Handel, Sozial- und Ökodumping, Kapitalflucht, Brain Drain etc.

In dieser Perspektive ist ein Pochen auf den "Besitzstand" kontraproduktiv und die Fixierung auf Partikularinteressen nicht nur rückwärtsgewandt, sie läuft diesen Interessen selbst zuwider. Die Job-Besitzer und gut Verdienenden verlieren angesichts dramatisch geschwächter Kampfkraft der Gewerkschaften seit Beginn der neunziger Jahre infolge von Massenerwerbslosigkeit, Reallohnabbau und Streichung von Sozialleistungen auf schleichendem Wege ohnehin ihren "Besitzstand". Die Neoliberalen gehen inzwischen sogar so weit, eine Verlängerung von Arbeitszeit ohne jedweden Lohnausgleich zu fordern. Und sie haben angesichts anhaltender Schwäche der Gegenkräfte auch gute Aussichten, diese Vorstellungen durchzusetzen. Die neoliberale Strategie der Mehrarbeit ohne Lohnausgleich muss durch eine Strategie von Arbeitszeitverkürzung ohne Lohnausgleich verhindert werden. Erst durch eine 30-Stunden-Woche und die Überwindung der Massenerwerbslosigkeit können Gewerkschaften ihre Kampfkraft wieder zurückgewinnen. Insofern ist ein Verzicht auf den Lohnausgleich heute auch ein wichtiger Schritt für die Wahrung eigener Interessen von morgen. Die Verweigerung dieses Verzichts mit dem sachlich durchaus richtigen Verweis auf wachsende Unternehmensgewinne läuft darauf hinaus, an dem herkömmlichen, jedoch perspektivlosen Wachstums- und Konsummuster festzuhalten. Einem Verzicht auf Lohnausgleich steht die realistische Chance gegenüber, einem weiteren Verfall des Sozialstaates Einhalt zu gebieten und die Weichen für den Aufbau einer anderen Welt zu stellen. Durch die Bereitschaft, Arbeit und Einkommen in der eigenen Gesellschaft teilen zu wollen, wird gleichzeitig das herrschende Wachstums- und Konsummuster in Frage gestellt und auf überzeugende Weise signalisiert, auch zu einer globalen Teilung von Arbeit und Einkommen bereit zu sein.


2.Die Gefahr von Bumerang-Effekten, vor allem der Zunahme von Schwarzarbeit bei Arbeitszeitverkürzungen und Einkommensverlusten, ist nicht von der Hand zu weisen. Um diese Effekte aufzufangen, bedarf es gleichzeitig der Entwicklung alternativer Betätigungsmöglichkeiten zur Steigerung der Lebensqualität und der Erhöhung von Chancen zur individuellen Selbstverwirklichung. Die Alternativen zur Erwerbsarbeit und zum herkömmlichen Konsummuster müssten im Prozess der Arbeitszeitverkürzung gleichzeitig erfahrbar und akzeptanzfähig gemacht werden. Insofern reichen die Dimensionen des Projektes weit über den Kreis der Tarifparteien hinaus. Alternative Projekte geschlechtergerechter Arbeitsteilung, ehrenamtlichen Engagements bei kommunalen Dienstleistungen und Projekte zur Unterstützung Bedürftiger und zum Schutz der Umwelt sowie der eigenen Weiterbildung und Selbstverwirklichung rücken in den Bereich der Realisierbarkeit. Einem geringeren verfügbaren Einkommen steht ein Mehr an verfügbarer Zeit für jeden selbst, für die Familie und für ein solidarisches Zusammenleben, insgesamt ein Mehr an Lebensqualität und Zeitwohlstand, gegenüber. Die hier nur ansatzweise genannten Interessen, Bedürfnisse, Strategien und Visionen sozialer Bewegungen, NGOs, kirchlicher Organisationen für eine sozial und ökologisch gerechtere Welt stünden nicht länger im Gegensatz zu gewerkschaftlichen Interessen, sondern ergänzten und bedingten einander. Darauf beruht die Hoffnung zur Herausbildung einer breiten gesellschaftlichen Allianz und eines hegemonialen Projektes für "eine andere Welt".

3.Das Projekt 30-Stunden-Woche zielt auf eine gesamteuropäische Perspektive. Diese ist sehr komplex, aber unausweichlich. Einerseits kann die Strategie , einzelne europäische Staaten gegeneinander auszuspielen, durchkreuzt werden. Andererseits hätte eine Arbeitszeitverkürzung nur dann Auswirkungen auf globale Umverteilung und die eine gerechtere Weltwirtschaft, wenn sie gesamteuropäisch durchgesetzt würde. Europa wäre mit seinem Gewicht in der Weltwirtschaft in der Lage, die nötige Sogwirkung auf die übrigen Zentren der Weltwirtschaft zu erzeugen. Hinzu kommt, quasi als Nebenprodukt die Herausbildung einer europäischen Identität, die für den Ausbau einer multilateralen Weltordnung und einer neuen friedens- und außenpolitischen Orientierung eine wichtige Voraussetzung darstellt. Dabei sollte die 30-Stunden-Woche als eine Richtschnur aufgefasst werden. Abweichungen nach unten bzw. nach oben ergeben sich aus den Rahmenbedingungen des jeweiligen Staates. Das gleiche gilt auch für die vielfältigen Formen der Arbeitszeitverkürzung: Wochen-, Jahres- und Lebensarbeitszeit sowie der jeweils intelligenten Kombination dieser Optionen, also keine Arbeitszeitverkürzung nach dem Gießkannenprinzip. Sie ließe sich ohnehin nur in Abhängigkeit von der Arbeitsproduktivität, von anderen sektoralen und regionalen Besonderheiten und Qualifikationsstrukturen nach differenzierten und auf die jeweilige Situation zugeschnittenen Modalitäten verwirklichen. Die gesamteuropäische Perspektive erfordert keineswegs den gleichzeitigen Start des Projektes in allen europäischen Staaten. Es dürfte genügen, die Initiative zunächst auf einige wichtige EU-Staaten mit starken Traditionen der Arbeiterbewegung, sozialen und globalisierungskritischen Bewegungen zu konzentrieren, wie Frankreich, Italien, Deutschland, England und Spanien. Das wäre komplex genug und für alle Beteiligten ohnehin eine Herausforderung von historischem Gewicht.

Ergänzend zu den o.a. Problemkreisen scheint mir folgender Sachverhalt von grundlegender Relevanz zu sein: die Bereitschaft zum Verzicht auf Lohnausgleich, d.h. die Kostenneutralität des Projektes, liefert keine Garantie für dessen Akzeptanz. Denn das Projekt als Ganzes tangiert die Fundamente der asymmetrischen Macht- und Reichtumsverteilung auf der Welt. Daher muss damit gerechnet werden, dass rückwärtsgewandte Unternehmerverbände, neoliberale Medien, Parteien sowie Politiker und Politikerinnen dieses Projekt trotz des weitreichenden Entgegenkommen der Lohn- und Gehaltsabhängigen aufs Schärfste bekämpfen werden. Die Bildung einer breiten gesellschaftlichen Allianz für das Projekt erfordert daher bei allen Beteiligten erhebliche Anstrengungen und eine offensiv geführte Debatte und Aufklärung, nicht zuletzt auch in den eigenen Reihen. Der Verzicht auf Lohnausgleich ist neben dem Beitrag für eine ökologische und sozial gerechtere Weltwirtschaft der strategische Kern des Projektes, um aus der Defensive herauszukommen. Die wachsende Ablehnung neoliberaler Globalisierung, die inzwischen alle gesellschaftlichen Gruppen erfasst hat, bietet eine Plattform für Konsensbildung und die Entstehung einer hegemonialen Allianz mit sozialökologischer Ausrichtung. Die globalisierungskritischen Strömungen in Europa, vor allem attac, könnten dabei zwischen Gewerkschaften, Kirchen, Umwelt- und Eine-Welt-Bewegungen die Rolle einer kommunikativen Brücke übernehmen. Die nach Porto Alegre entstandenen Sozialforen könnten sich als Vorboten für eine breite gesellschaftliche Allianz erweisen, das "Projekt Agenda 2010 / 30-Stunden-Woche in Europa" voran zu bringen.

Copyright © Frankfurter Rundschau online 2004
Dokument erstellt am 16.12.2003 um 16:00:02 Uhr
Erscheinungsdatum 17.12.2003



Posted: Mi - Januar 7, 2004 at 03:13 nachm.  
   
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