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Stinkbombenzeit
Dr. Seltsam schreibt in der jungen Welt vom
17.07.2004:
Schröders Scheitern an »Hartz IV« und
mir In meinem täglichen Sozial- und Wirtschaftsverhalten bin ich
ein durchschnittlicher Mensch. Deshalb werde ich am Beispiel meiner Person
zeigen, was »Hartz IV« bewirkt.
junge Welt vom 17.07.2004 -
Feuilleton
Stinkbombenzeit
Schröders
Scheitern an »Hartz IV« und mir
Dr.
Seltsam
In meinem täglichen Sozial- und
Wirtschaftsverhalten bin ich ein durchschnittlicher Mensch. Deshalb werde ich am
Beispiel meiner Person zeigen, was »Hartz IV«
bewirkt.
Entschlossen, als Rebell und Aufputscher zu existieren, war
mir früh klar, daß mich kein Unternehmen einstellen würde. Ich
las diverse Sozialratgeber und sah, daß ich zwar auf niedrigem Niveau, aber
doch abgesichert als Langzeitarbeitsloser durchkommen würde, falls die
Gesetze so blieben. Ich fand das in Ordnung. Mein Unterhalt kam die Gesellschaft
äußerst billig, dafür machte ich Kunst und setzte wertvolle Dinge
in Gang, womit meine Schuld gegenüber der Allgemeinheit bezahlt war: Amok,
Lesebühnen, Künstlerförderung, Club Existentialiste,
Mühsam-Feste.
Da ich unter anderem Lehrer bin, konnte ich einer
Freundin in Cottbus helfen, ihre Arbeitslosenumschulungsklitsche zu etablieren.
Dort mußte sie nämlich, war ihr bedeutet worden, einen West-lehrer
einstellen, um Aufträge zu kriegen. Dieser »Grüßwessi«
war ich und zwar für 361 Tage, genau wie ich es meinen Schülern im
Kurs »Wie melde ich mich korrekt beim Arbeitsamt?« beigebracht
hatte.
Danach war ich eine Zeit lang der teuerste Arbeitslose
Kreuzbergs. Ich ging regelmäßig zu meinem Arbeitsberater und grinste
ihn an: »Na, Herr Weber, haben Sie heute eine Stelle für einen
linksradikalen Schulleiter im Angebot?« Die Arbeitslosenhilfe verringerte
sich Jahr um Jahr um zirka zehn Prozent. Jetzt bin ich bei 500 Euro im Monat
angelangt. Ab Januar soll ich nur noch 345 Euro erhalten. Ich mache mir Sorgen,
schlafe schlecht, habe Herzschmerzen und Existenzängste.
Nachdem
ich Schröder seine Kampfansage gegen die Arbeitslosen hatte bellen
hören, hyperventilierte ich zum ersten Mal in meinem Leben und dachte, ich
müßte sterben. Der Notarzt beruhigte mich: Das wäre normal bei
unterdrückter Wut. Ich sollte mal intensiv nachdenken, gegen wen ich denn
diesen Haß hegte. Nun, da mußte ich nicht lange überlegen,
»und ich beschloß, Politiker zu werden«, bzw. mich mehr um
Gewerkschafts- und Sozialfragen zu kümmern und mich wieder zu
organisieren.
Fassen wir zusammen: Noch bevor irgend etwas
beschlossen war, noch bevor auch nur ein Cent an meiner Person eingespart war,
hatte Bundeskanzler Schröder schon etwas erreicht: Er hatte einen
friedlichen, sozial integrierten linken Literaten in einen unversöhnlichen,
mordgierigen und existentiell haßerfüllten Staatsfeind verwandelt! Ich
wurde krank, man attestierte mir ein neuartiges »Arbeitslosensyndrom«,
und ich mußte zur Kur, was unser Sozialsystem mal eben 9 000 Euro kostete.
Und alles, ohne daß ein Cent eingespart wurde.
Wenn ich bedenke,
daß ich nichts Besonderes bin, daß sich dasselbe derzeit in Millionen
Seelen abspielt, wage ich folgende Prophezeihung: Schröder wird nicht im
Bett sterben! Er schafft sich in Berlin gerade seinen eigenen Irak. Die Zeichen
sind überall, das geht vom verbotenen Buchumschlag des
Schröder-Mörder-Krimis bis zur Lehrerohrfeige. Ich an Schröders
Stelle würde momentan ganz schön Angst haben!
Wenn ich also
ab Januar von 345 Euro leben soll, muß ich sehen, wie ich Kosten senken
kann: Ich werde schwarzfahren, die GEZ betrügen, den Gaszähler umgehen
und bei Karstadt klauen: Das allein wird so viel volkswirtschaftlichen Schaden
anrichten, daß sie die 150 Euro, die sie an mir einsparen wollten, schon
nach drei Monaten für mehr Sicherheit ausgegeben müssen, die damit
wieder für die Sanierung der Staatsfinanzen fehlen. Und ich bin nicht der
einzige, der dem Staat seinen kleinen sozialen Frieden aufkündigen
wird.
Ich werde mit ein paar Freunden die Sau rauslassen. Wir werden
die Türen vom Arbeitsamt mit Sekundenkleber zupappen, Stinkbomben in Banken
werfen, im SPD-Haus Knaller zünden, bei der Zwangsarbeit alle teuren
Geräte kaputtmachen, im Sozialamt randalieren und Jauche ins Kanzleramt
kippen, kurz: Mein Kind-Ich, bisher durch Vernunft und Erziehung qualvoll im
Zaum gehalten, wird freigelassen, um die Sozialdiebe zu nerven. Schon im
Kindergarten war ich unausstehlich.
Das ist aber noch nicht alles: Da
ich bisher meine Miete selbst zahlen mußte, war ich bemüht, billig zu
wohnen. So habe ich mit meinen wechselnden Vermietern zirka siebzehn Prozesse
geführt und durch geniale Einfälle meines Anwalts alle gewonnen, das
heißt, ich zahle immer noch die Miete von 1979, und das am Südstern,
in einer Wohngegend, nach der sich alle Yuppies der Stadt die Finger lecken. Ich
will Sie ja nicht neidisch machen, aber ständiges Kämpfen lohnt sich
eben: Für 90 Euro.
Nach Schröders Rede habe ich mich mit
meinem Vermieter zum ersten Mal freundlich unterhalten, ich bekomme zum Winter
eine Heizung, endlich einen Balkon und eine vernünftige Schallisolierung,
so daß ich meine geliebten Maria-Callas-Arien in Konzertlautstärke
hören kann, ohne daß meine Nachbarn aus dem Bett fallen. Die neue
Miete wird 350 Euro betragen und vom Sozialamt bezahlt werden. Das heißt,
der Staat spart zwar 155 Euro an meiner Arbeitslosenhilfe, muß aber 200
Euro mehr für meine Miete ausgeben.
Und da es mir nicht alleine
so geht, kann man sich jetzt schon ausrechnen, daß »Hartz IV«
nicht nur mathematisch in die Hose geht, sondern daß die herrschende Klasse
sich etwas einhandeln wird, wovon sie im Unterschied zu Italien und Frankreich
50 Jahre lang verschont geblieben war: eine nachhaltige, unversöhnliche,
radikal antikapitalistische, gewaltbereite Massenbewegung. Wie hieß es
immer so schön in den Sonntagsreden der Politiker: »Der soziale
Frieden in unserem Lande ist unser höchstes Gut!« Tja, hätten sie
das mal ernst genommen! Jetzt ist es zu spät. Denn was mich betrifft, und
ich bin ja nur einer unter Millionen, läßt sich heute schon sagen: Die
50 Milliardäre und die eine Million Millionäre dieses Landes, also
diejenigen, für deren Vermögenssteigerung an mir gespart werden soll,
werden für diese miesen kleinen Einsparungen am Ende bezahlen: Der Preis
wird ihre Abschaffung sein.
* Der ungekürzte Text findet sich
im aktuellen Ossietzky ----------------------- Adresse:
http://www.jungewelt.de/2004/07-17/018.php
Posted: Mo - Juli 26, 2004 at 11:56 nachm.
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