Radikale VerhältnisseFür seinen Film "Neue
Wut" hat Martin Keßler eineinhalb Jahre die Protestbewegung gegen Agenda
2010 und Hartz IV beobachtet. Er schildert den persönlichen und politischen
Alltag von Demonstranten.
In Dokumentationen und Nachrichten oder bei
Sabine Christiansen, also im üblichen politischen Fernsehgeschehen, wird
"business as usual" gesendet. So als habe es gar keinen grundsätzlichen
Wandel des staatlichen Sozialsystems in unserer Republik gegeben, sondern nur
vereinzelte Reformen. Im Mai 2005 kommt mit Martin Keßlers
Langzeitbeobachtung Neue Wut ein Film auf den Markt, der dieser allseits
vorherrschenden Sichtweise Paroli bietet. Der Frankfurter Dokumentarfilmer
bürstet die Geschichte gegen den Strich, betrachtet sie "von unten". Und
stellt demzufolge ganz andere Fragen. In seiner 90-minütigen Dokumentation
Neue Wut steht einmal nicht mehr die Standardfrage zur Debatte: "Wie radikal
dürfen oder sollten soziale Bewegungen sein?" Keßler dreht den
Spieß um, will wissen: Wie radikal sind die Verhältnisse? Und wo
spielen sie sich hauptsächlich ab? Im Betrieb, oder neuerlich nicht
vielleicht eher auf den Straßen, in den Häusern und in den
Stadtteilen? Welche Gegenwehr ist da angemessen?
Fesselnd wie ein
Spielfilm
All dies ist im Film am Beispiel vielschichtiger,
persönlicher Geschichten dargestellt. Die Geschichten einzelner
Demonstranten, ihres Alltags und ihrer Weltanschauungen, sind fesselnd wie
Spielfilmszenen erzählt. Mit wem sich der Zuschauer identifizieren
möchte, wird ihm freigestellt: ob mit dem Berliner Attac-Aktivisten
(Student und "Idealist"), einem Bochumer IG Metall-Vertrauensmann bei Opel (der
gern weiter gestreikt hätte und innergewerkschaftliche Kritik übt)
oder einer ehemaligen Bankangestellten und allein Erziehenden, die jetzt in der
Nachbarschaftshilfe der Caritas einen Ein-Euro-Job versieht und selbst die
jährlichen 30 Cent Zinsen für die Mini-Sparkonten ihrer zwei Kinder im
Hartz-IV-Fragebogen offen legen muss. Oder mit einem Ossi, ehemals SED, dann
CDU, der später eine eigene Partei im Kneipenhinterzimmer gründet und
damit bei der Montagsdemo in Magdeburg abblitzt.
Keßlers Neue
Wut wirft einen unabhängigen Blick auf die Verhältnisse. Manchmal
lacht man lauthals über die Situationskomik, bis einem das Lachen gleich
wieder im Hals hängen bleibt: Zu hart ist die Lage des Einzelnen. Kritische
Fragen stellt er nach allen Richtungen: Hat die Regierung es geschafft, die
Proteste einzudämmen, indem sie viele Menschen so stark an den sozialen
Rand drückt, dass sie zur Teilhabe am kulturellen und politischen Leben
nicht mehr fähig sind? Welche Rolle nahmen die Medien ein? Keßler
zeigt, wie die Fernsehkameras trotz anhaltend heftiger Proteste zunehmend rarer
werden; und wie Journalisten Fragen stellen, die meist die Demonstranten - nicht
aber die politischen Entscheider - unter Rechtfertigungszwang
bringen.
Keßler stellt jedoch auch die Rolle, die Gewerkschaften
in der Protestbewegung spielen, infrage. Ist der gewerkschaftliche Rück-zug
auf "das Kerngeschäft" unter den neuen Arbeits- und Lebensbedingungen
überhaupt noch adäquat? Hier Opelaner, die weiter streiken wollen, da
Spitzengewerkschafter und einige ihrer Anhänger, die den Sog ins warme Nest
sozialpartnerschaftlichen Dialogs verspüren. Dahinter stehen jeweils
unterschiedliche politische Einschätzungen und andere Alltagserfahrungen.
Beides zeigt Keßler. Auch, dass ein Großteil der Opel-Arbeiter sich
sehr stark mit dem Risiko beschäftigt, dass auch sie eines Tages
Hartz-Betroffene sein könnten. Und als welch schmale Gradwanderung der Weg
vom Beschäftigten zum potenziellen Arbeitslosen angesehen
wird.
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