Nashornpower Bochumer Sozialforum
 Info zum Forum   Termine   Querbeet   Materialien   Presse   Links   Mailingliste   Kontakt 
Querbeet :: Europa

Die Bolkestein-Richtlinie ist ein Generalangriff der Konzerne auf die Rechte der Beschäftigten

junge Welt vom 06.04.2005
Neoliberales Utopia

Die Bolkestein-Richtlinie ist ein Generalangriff der Konzerne auf die Rechte der Beschäftigten. Ziel ist die Deregulierung des Dienstleistungssektors in der EU. Absehbare Folgen sind forcierter Verdrängungswettbewerb sowie steigender Druck auf Arbeitsbedingungen, Löhne und Produktqualität (Teil I)
Thomas Fritz

 

Die neoliberalen Eliten in Europa sind alarmiert. Ihr zentrales Projekt, um die marktradikalen Geländegewinne der letzten Jahre dauerhaft zu sichern, ist akut gefährdet: der Europäische Verfassungsvertrag. Im Vorfeld des französischen Referendums dokumentieren Umfragen einen drastischen Meinungsumschwung. Konnte bisher mit einer breiten Zustimmung von nahezu 70 Prozent zur EU-Verfassung gerechnet werden, nehmen seit Anfang März die Nein-Stimmen vor allem aus dem Lager traditioneller Linkswähler beständig zu. Zuletzt kletterten sie auf 55 Prozent. Ein wesentlicher Grund für diese Entwicklung ist die Unzufriedenheit über den neoliberalen Charakter der Europäischen Union. Aktuell manifestiert sie sich in Frankreich und in anderen Ländern an dem bisher radikalsten Deregulierungsprojekt der Europäischen Kommission – der Richtlinie über Dienstleistungen im Binnenmarkt.

 

Mit diesem Gesetzentwurf aus dem Haus des ehemaligen Binnenmarkt-Kommissars Frits Bolkestein liefern die Eurokraten ein Instrumentarium zur vollständigen Liberalisierung des Binnenmarkts. Käme es zur Anwendung, könnten auch die letzten öffentlichen Güter privatisiert und Sozialstandards auf das minimalste Niveau gestutzt werden. Mit der bisherigen Praxis der Harmonisierung des nationalen Rechts würde radikal gebrochen. Anstatt Dumpingkonkurrenz durch die Vereinbarung europaweit gültiger Mindeststandards zu verhindern, würde sie sogar noch forciert. Nach dem in der Richtlinie verankerten Herkunftslandprinzip könnten Firmen die Konditionen, zu denen sie in der gesamten Union Dienstleistungen erbringen wollen, beliebig wählen. Dies beträfe das Arbeits- und Vertragsrecht, die Unternehmensformen, die Löhne, die Besteuerung, den Umwelt- und Verbraucherschutz. Paßgenau dürften sich Dienstleister aus den 25 Rechtsordnungen der EU-Mitglieder ein Menü jener Normen zusammenstellen, die sie künftig noch befolgen wollen. Einst erkämpfte Schutzrechte, die nicht dem Konzept »Staat à la carte« entsprechen, würden in schrankenloser Standortkonkurrenz zerrieben.

Sämtliche Dienstleistungen erfaßt

Der Kommissionsvorschlag ist ein zentraler Baustein der im Jahr 2000 verabschiedeten Lissabon-Strategie. Danach sollte die Europäische Union bis zum Jahr 2010 »der wettbewerbsfähigste und dynamischste wissensbasierte Wirtschaftsraum der Welt« werden. Von diesem Ziel haben sich die 25 Staats- und Regierungschefs bei ihrem Frühjahrsgipfel vor zwei Wochen allerdings wieder verabschiedet. Von der Bolkestein-Richtlinie jedoch nicht. Da auf den Dienstleistungssektor 70 Prozent der Wirtschaftstätigkeit und der Beschäftigung in der EU entfallen, betrachten Kommission und Regierungen die Beseitigung »bürokratischer Schranken« im tertiären Sektor unverändert als wesentliche Voraussetzung für die Vollendung des Binnenmarkts. Für die politische Intervention ist wichtig, daß es sich um eine Richtlinie handelt, die im sogenannten Mitentscheidungsverfahren (Artikel 251 EG-Vertrag) vom Europäischen Parlament und dem Rat gemeinsam angenommen werden muß, um Rechtskraft zu erlangen.

Die Kommission wählte den horizontalen Ansatz einer Rahmenrichtlinie, die – von wenigen Ausnahmen abgesehen – grundsätzlich für alle Dienstleistungen gilt. Mit Dienstleistungen wiederum sind alle »wirtschaftlichen Tätigkeiten« gemeint, die »in der Regel gegen Entgelt erbracht werden«. Dabei muß das Entgelt nicht notwendig vom Empfänger der Dienstleistung gezahlt werden, dies kann auch der Staat übernehmen, beispielsweise in Form von Subventionen. Da mittlerweile für zahlreiche öffentliche Aufgaben Entgelte erhoben werden, betrifft die Bolkestein-Richtlinie folglich nicht nur alle kommerziellen Dienste, sondern auch weite Bereiche des öffentlichen und Non-Profit-Sektors: öffentlich-rechtlicher Rundfunk, Verkehrsunternehmen, Ver- und Entsorger, Kindergärten, Volkshochschulen, Universitäten, Krankenhäuser, Pflegedienste und Sozialkassen.

Allerdings existiert bereits eine Vielzahl von Vorschriften für den Dienstleistungssektor im Gemeinschaftsrecht, wie die den öffentlich-rechtlichen Rundfunk betreffende Richtlinie »Fernsehen ohne Grenzen«, die Liberalisierungsrichtlinien für Postdienste, Telekommunikation, Energieversorgung und Verkehr, die Vorschriften über staatliche Beihilfen, die Ausschreibung öffentlicher Aufträge, die gegenseitige Anerkennung von Berufsqualifikationen, den Verbraucher- oder Umweltschutz. Von ihrem Anspruch her geht die Bolkestein-Richtlinie über dieses existierende EU-Recht jedoch weit hinaus. So heißt es in den Erläuterungen: »Fällt eine Dienstleistungstätigkeit bereits unter einen oder mehrere Gemeinschaftsrechtsakte, so sind diese zusammen mit dieser Richtlinie anwendbar; die Anforderungen ergänzen sich gegenseitig«. Noch deutlicher heißt es an anderer Stelle, daß »die Richtlinie und diese anderen Rechtsakte kumulativ angewandt« werden, »d.h. die jeweiligen Anforderungen addieren sich«. Folglich vermag die Richtlinie auch in jenen Bereichen Verschärfungen zu erzwingen, die bereits dem Binnenmarktprogramm unterworfen sind.

Schließlich berührt das Bolkestein-Papier auch jene Bereiche, wo die Liberalisierung noch in Verhandlung ist oder gar aufgrund von Widerständen scheiterte. Dies gilt beispielsweise für die zähen Verhandlungen über den Öffentlichen Personenverkehr, in denen die Kommission eine Ausschreibungspflicht bei der Auftragsvergabe durchzusetzen versucht. Auch die Wasserversorgung geriete ins Visier. Für sie sieht die Richtlinie lediglich eine Ausnahme vom Herkunftslandprinzip vor, nimmt sie jedoch nicht vom gesamten Anwendungsbereich aus. Allerdings gibt es sehr grundlegende Zweifel, ob für den horizontalen Ansatz einer Rahmenrichtlinie überhaupt eine ausreichende Rechtsgrundlage besteht. Derartige Rahmengesetze sieht der EG-Vertrag nämlich nicht vor. Daher galt bisher die Norm, den Spezifika einzelner Branchen durch sektorielle Gesetze Rechnung zu tragen.

Daseinsvorsorge kein Thema

Zum Ärger vieler Beobachter ignoriert die Kommission die von ihr selbst mit einem Grünbuch und einem Weißbuch initiierte, parallel ablaufende und noch längst nicht abgeschlossene Debatte über Leistungen der Daseinsvorsorge in der Europäischen Union. Ein offener Streitpunkt dieser Debatte ist beispielsweise die Forderung nach einem Rahmengesetz für Dienstleistungen von allgemeinem Interesse. Eine solche Rahmenregelung, die bestimmte Daseinsvorsorgeleistungen vom EU-Wettbewerbsrecht ausnehmen würde, fordern u. a. Gewerkschaften. Die Kommission verschob die Entscheidung über diese zentrale Forderung auf die Zeit nach der Ratifizierung der EU-Verfassung.

Während die Auseinandersetzung um Dienste von allgemeinem Interesse also noch längst nicht abgeschlossen ist, versucht die Kommission auf dem parallelen Gleis der Bolkestein-Richtlinie Fakten zu schaffen. Es ist insofern grobe Augenwischerei, wenn das Bolkestein-Papier versichert, die Dienste von allgemeinem Interesse seien weder Gegenstand des Vorschlags, noch werde ihre Öffnung für den Wettbewerb angestrebt. Aufgrund des Entgeltkriteriums kann schließlich die Gesamtheit öffentlicher Leistungen ins Räderwerk des Binnenmarkts geraten. Ebenso wenig plausibel ist der Verweis auf Ausnahmen vom Herkunftslandprinzip für einzelne Sektoren, die bereits im Binnenmarktprogramm dereguliert werden (Post, Strom, Gas, Verkehr etc.). Denn für diese Sektoren würden nach wie vor die übrigen Bestimmungen der Richtlinie gelten, u. a. die Verbote staatlicher Auflagen bei der Niederlassungsfreiheit. Auch die kumulative Anwendung mit dem bereits existierenden EU-Recht erweitert die Herrschaft des Wettbewerbsrechts über öffentliche Aufgaben. Schleichend würden weitere Unionskompetenzen beim Hörfunk, der Krankenversicherung oder sozialen Diensten begründet.

Die Jagd nach Ministandards

Die Richtlinie dient der Beseitigung von Hindernissen zweier Grundfreiheiten: der Niederlassungs- und der Dienstleistungsfreiheit. Artikel 14 des Kommissionspapiers listet eine Reihe staatlicher Auflagen bei der Niederlassung auf, die laut Bolkestein »schlichtweg verschwinden« müssen. Demnach dürften die Mitgliedstaaten künftig nicht mehr die Form einer Niederlassung vorschreiben. Sie dürften keine Auflage erteilen, eine Hauptniederlassung statt einer Tochtergesellschaft oder Zweigstelle auf ihrem Hoheitgebiet zu unterhalten. Auch dürften sie nicht mehr verlangen, daß Dienstleister für eine Mindestdauer auf ihrem Territorium tätig oder in den Unternehmensregistern eingetragen sind. Schließlich wäre es nicht mehr erlaubt, die Errichtung von Niederlassungen in mehreren Mitgliedstaaten bzw. die oftmals rein formale Mehrfachregistrierung zu verbieten.

Allein diese Bestimmungen dürften eine Lawine von Sitzverlagerungen innerhalb der Europäischen Union auslösen. Die Karawane, die sich auf die Suche nach den günstigsten Standorten mit den niedrigsten Auflagen begibt, würde dabei nicht nur von Großkonzernen angeführt, sondern auch klein- und mittelständische Unternehmen mit sich ziehen. Denn schon heute ist es weder übermäßig aufwendig noch sonderlich kostspielig, eine Briefkasten-Firma im europäischen Ausland zu gründen. War hierfür bisher die Steuerflucht das treibende Motiv, kommt mit der Bolkestein-Richtlinie ein ganzer Reigen weiterer Anreize hinzu, wie die Umgehung von Umwelt-, Arbeits- und Gesundheitsstandards, Qualifikationsanforderungen und Tarifverträgen. Schon jetzt warten diverse EU-Staaten mit verschiedensten Unternehmenskonstruktionen vornehmlich für die grenzüberschreitende Steuerflucht auf, seien dies sogenannte Koordinierungszentren (in Belgien, Luxemburg, Spanien und Deutschland), Holdinggesellschaften (in den Niederlanden, Luxemburg, Österreich und Dänemark) oder diverse Finanzdienstleistungs-, Verwaltungs- und Logistikzentren (in Irland, Frankreich und Italien).

Sollte die Bolkestein-Richtlinie durchkommen, wäre es nur eine Frage der Zeit, bis spezifische Unternehmensvehikel für die Ausnutzung der unterschiedlichen Regulierungsniveaus zwischen den EU-Mitgliedern entwickelt würden. Heerscharen an Arrangeuren, Managern und Treuhändern stünden für die Konzeption, Anmeldung und Betreuung derartiger Konstrukte zur Verfügung. Die nicht zu unterbindende Mehrfachregistrierung würde es dann einem deutschen Unternehmen ermöglichen, mit einer Sparte formal von den Niederlanden aus EU-weit tätig zu werden (also auch innerhalb Deutschlands), mit einer anderen aus Belgien – je nach dem, wo die Rahmenbedingungen für den jeweiligen Geschäftszweig am günstigsten sind. Entsprechend erwartet die Industriegewerkschaft Bauen-Agrar-Umwelt eine »riesige ›Ausflaggungswelle‹ von Dienstleistungsunternehmen in Länder mit den niedrigsten rechtlichen Anforderungen und Kontrollen für ihre unternehmerische Tätigkeit«.

Auflagen schleifen

Andere staatliche Auflagen der Niederlassungfreiheit sollen einem sogenannten »Screening-Verfahren« unterworfen werden (Artikel 15). Die Mitgliedstaaten müssen sie selbst auf Diskriminierungsfreiheit, Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit überprüfen und gegenüber der Kommission und den übrigen Mitgliedstaaten im Zuge einer gegenseitigen Evaluierung rechtfertigen. Dieses Verfahren bricht mit dem bisherigen Prozedere bei Vertragsverletzungen, da die EU-Mitglieder ihre Vorschriften gegenüber der Kommission zu legitimieren haben, ohne daß diese zuvor einen möglichen Verstoß gegen EU-Recht feststellen müßte. Zu den Vorschriften, die zu überprüfen und gegebenenfalls zu beseitigen sind, gehören staatliche Anforderungen an die Rechtsform von Unternehmen, an die Kapitalausstattung, an Qualifikationen der Mitarbeiter, festgesetzte Mindestpreise oder mengenmäßige Zulassungsgrenzen.

Welche Folgen die gegenseitige Evaluierung haben könnte, erschließt sich erst bei Berücksichtigung des spezifischen gesellschaftlichen Zwecks, den die zu prüfenden Auflagen erfüllen. Mengenmäßige Beschränkungen betreffen regionale Höchstgrenzen bei der Zulassung von zahlreichen Gewerben – vom Taxiunternehmen bis zur Arztpraxis. Sie können dazu dienen, ein Überangebot in einzelnen Gebieten zu verhindern und damit den am Markt tätigen Dienstleistern überhaupt ein wirtschaftliches Überleben zu sichern. Umgekehrt wirken sie dadurch gegebenenfalls einer Unterversorgung in benachteiligten Gebieten entgegen. Im Gesundheitswesen trägt die gesteuerte Zulassung medizinischer Dienstleister, deren Behandlungskosten von den Sozialkassen erstattet werden, zur Kontrolle der Kostenentwicklung bei. Die Umstellung von derartigen mengenmäßigen und territorialen Steuerungsmechanismen auf reine Marktsteuerung zieht unabsehbare gesellschaftliche Folgekosten nach sich. Allein ein forcierter Verdrängungswettbewerb mit zunehmenden Unternehmensinsolvenzen würde die öffentlichen Kassen mit den dann fällig werdenden Sozialtransfers belasten.

Die Kommission heißt jedoch auch die exzessivsten Formen des Wettbewerbs willkommen. Dies unterstreicht sie mit der Absicht, festgesetzte Mindestpreise und Verkäufe unter dem Einstandspreis schleifen zu wollen. Dadurch geraten nicht nur die für viele Freiberufler wichtigen Honorarordnungen unter Druck, sondern auch wettbewerbsrechtliche Verbote von Dumpingpreisen. Letzteres würde dem Verdrängungswettbewerb durch transnationale Konzerne Tür und Tor öffnen. Künftig könnten sie mit zeitlich befristeten Dumpingangeboten, finanziert durch konzerninterne Quersubventionen, aggressiv neue Märkte erobern. Kehrseite derart radikalisierter Preiskämpfe ist ein steigender Druck auf Arbeitsbedingungen, Löhne und Produktqualität.

Auflagen, nach denen für bestimmte Tätigkeiten »juristische Personen«, also Unternehmen, zu gründen sind, werden ebenfalls der gegenseitigen Evaluierung unterworfen. Damit reagiert die Richtlinie auf den Trend, Beschäftigte und Erwerbslose in kaum überlebensfähige Mini-Selbständigkeiten zu drängen. Die mit den »Ich-AGs« der Hartz-Gesetze betriebene Legalisierung prekärer »Scheinselbständigkeiten« findet nunmehr ihre binnenmarktliche Fortsetzung.

* Teil 2: Marktradikaler Sozialraub

 -----------------------
Adresse: http://www.jungewelt.de/2005/04-06/004.php

Posted: Mi - April 6, 2005 at 02:13 nachm.  
   
>
 
impressum