Mit diesem Gesetzentwurf aus dem Haus des ehemaligen
Binnenmarkt-Kommissars Frits Bolkestein liefern die Eurokraten ein
Instrumentarium zur vollständigen Liberalisierung des Binnenmarkts.
Käme es zur Anwendung, könnten auch die letzten öffentlichen
Güter privatisiert und Sozialstandards auf das minimalste Niveau gestutzt
werden. Mit der bisherigen Praxis der Harmonisierung des nationalen Rechts
würde radikal gebrochen. Anstatt Dumpingkonkurrenz durch die Vereinbarung
europaweit gültiger Mindeststandards zu verhindern, würde sie sogar
noch forciert. Nach dem in der Richtlinie verankerten Herkunftslandprinzip
könnten Firmen die Konditionen, zu denen sie in der gesamten Union
Dienstleistungen erbringen wollen, beliebig wählen. Dies beträfe das
Arbeits- und Vertragsrecht, die Unternehmensformen, die Löhne, die
Besteuerung, den Umwelt- und Verbraucherschutz. Paßgenau dürften sich
Dienstleister aus den 25 Rechtsordnungen der EU-Mitglieder ein Menü jener
Normen zusammenstellen, die sie künftig noch befolgen wollen. Einst
erkämpfte Schutzrechte, die nicht dem Konzept »Staat à la
carte« entsprechen, würden in schrankenloser Standortkonkurrenz
zerrieben.
Sämtliche Dienstleistungen
erfaßt
Der Kommissionsvorschlag ist ein zentraler Baustein der
im Jahr 2000 verabschiedeten Lissabon-Strategie. Danach sollte die
Europäische Union bis zum Jahr 2010 »der wettbewerbsfähigste und
dynamischste wissensbasierte Wirtschaftsraum der Welt« werden. Von diesem
Ziel haben sich die 25 Staats- und Regierungschefs bei ihrem
Frühjahrsgipfel vor zwei Wochen allerdings wieder verabschiedet. Von der
Bolkestein-Richtlinie jedoch nicht. Da auf den Dienstleistungssektor 70 Prozent
der Wirtschaftstätigkeit und der Beschäftigung in der EU entfallen,
betrachten Kommission und Regierungen die Beseitigung »bürokratischer
Schranken« im tertiären Sektor unverändert als wesentliche
Voraussetzung für die Vollendung des Binnenmarkts. Für die politische
Intervention ist wichtig, daß es sich um eine Richtlinie handelt, die im
sogenannten Mitentscheidungsverfahren (Artikel 251 EG-Vertrag) vom
Europäischen Parlament und dem Rat gemeinsam angenommen werden muß, um
Rechtskraft zu erlangen.
Die Kommission wählte den horizontalen
Ansatz einer Rahmenrichtlinie, die – von wenigen Ausnahmen abgesehen
– grundsätzlich für alle Dienstleistungen gilt. Mit
Dienstleistungen wiederum sind alle »wirtschaftlichen
Tätigkeiten« gemeint, die »in der Regel gegen Entgelt erbracht
werden«. Dabei muß das Entgelt nicht notwendig vom Empfänger der
Dienstleistung gezahlt werden, dies kann auch der Staat übernehmen,
beispielsweise in Form von Subventionen. Da mittlerweile für zahlreiche
öffentliche Aufgaben Entgelte erhoben werden, betrifft die
Bolkestein-Richtlinie folglich nicht nur alle kommerziellen Dienste, sondern
auch weite Bereiche des öffentlichen und Non-Profit-Sektors:
öffentlich-rechtlicher Rundfunk, Verkehrsunternehmen, Ver- und Entsorger,
Kindergärten, Volkshochschulen, Universitäten, Krankenhäuser,
Pflegedienste und Sozialkassen.
Allerdings existiert bereits eine
Vielzahl von Vorschriften für den Dienstleistungssektor im
Gemeinschaftsrecht, wie die den öffentlich-rechtlichen Rundfunk betreffende
Richtlinie »Fernsehen ohne Grenzen«, die Liberalisierungsrichtlinien
für Postdienste, Telekommunikation, Energieversorgung und Verkehr, die
Vorschriften über staatliche Beihilfen, die Ausschreibung öffentlicher
Aufträge, die gegenseitige Anerkennung von Berufsqualifikationen, den
Verbraucher- oder Umweltschutz. Von ihrem Anspruch her geht die
Bolkestein-Richtlinie über dieses existierende EU-Recht jedoch weit hinaus.
So heißt es in den Erläuterungen: »Fällt eine
Dienstleistungstätigkeit bereits unter einen oder mehrere
Gemeinschaftsrechtsakte, so sind diese zusammen mit dieser Richtlinie anwendbar;
die Anforderungen ergänzen sich gegenseitig«. Noch deutlicher
heißt es an anderer Stelle, daß »die Richtlinie und diese anderen
Rechtsakte kumulativ angewandt« werden, »d.h. die jeweiligen
Anforderungen addieren sich«. Folglich vermag die Richtlinie auch in jenen
Bereichen Verschärfungen zu erzwingen, die bereits dem Binnenmarktprogramm
unterworfen sind.
Schließlich berührt das Bolkestein-Papier
auch jene Bereiche, wo die Liberalisierung noch in Verhandlung ist oder gar
aufgrund von Widerständen scheiterte. Dies gilt beispielsweise für die
zähen Verhandlungen über den Öffentlichen Personenverkehr, in
denen die Kommission eine Ausschreibungspflicht bei der Auftragsvergabe
durchzusetzen versucht. Auch die Wasserversorgung geriete ins Visier. Für
sie sieht die Richtlinie lediglich eine Ausnahme vom Herkunftslandprinzip vor,
nimmt sie jedoch nicht vom gesamten Anwendungsbereich aus. Allerdings gibt es
sehr grundlegende Zweifel, ob für den horizontalen Ansatz einer
Rahmenrichtlinie überhaupt eine ausreichende Rechtsgrundlage besteht.
Derartige Rahmengesetze sieht der EG-Vertrag nämlich nicht vor. Daher galt
bisher die Norm, den Spezifika einzelner Branchen durch sektorielle Gesetze
Rechnung zu tragen.
Daseinsvorsorge kein Thema
Zum
Ärger vieler Beobachter ignoriert die Kommission die von ihr selbst mit
einem Grünbuch und einem Weißbuch initiierte, parallel ablaufende und
noch längst nicht abgeschlossene Debatte über Leistungen der
Daseinsvorsorge in der Europäischen Union. Ein offener Streitpunkt dieser
Debatte ist beispielsweise die Forderung nach einem Rahmengesetz für
Dienstleistungen von allgemeinem Interesse. Eine solche Rahmenregelung, die
bestimmte Daseinsvorsorgeleistungen vom EU-Wettbewerbsrecht ausnehmen
würde, fordern u. a. Gewerkschaften. Die Kommission verschob die
Entscheidung über diese zentrale Forderung auf die Zeit nach der
Ratifizierung der EU-Verfassung.
Während die Auseinandersetzung
um Dienste von allgemeinem Interesse also noch längst nicht abgeschlossen
ist, versucht die Kommission auf dem parallelen Gleis der Bolkestein-Richtlinie
Fakten zu schaffen. Es ist insofern grobe Augenwischerei, wenn das
Bolkestein-Papier versichert, die Dienste von allgemeinem Interesse seien weder
Gegenstand des Vorschlags, noch werde ihre Öffnung für den Wettbewerb
angestrebt. Aufgrund des Entgeltkriteriums kann schließlich die Gesamtheit
öffentlicher Leistungen ins Räderwerk des Binnenmarkts geraten. Ebenso
wenig plausibel ist der Verweis auf Ausnahmen vom Herkunftslandprinzip für
einzelne Sektoren, die bereits im Binnenmarktprogramm dereguliert werden (Post,
Strom, Gas, Verkehr etc.). Denn für diese Sektoren würden nach wie vor
die übrigen Bestimmungen der Richtlinie gelten, u. a. die Verbote
staatlicher Auflagen bei der Niederlassungsfreiheit. Auch die kumulative
Anwendung mit dem bereits existierenden EU-Recht erweitert die Herrschaft des
Wettbewerbsrechts über öffentliche Aufgaben. Schleichend würden
weitere Unionskompetenzen beim Hörfunk, der Krankenversicherung oder
sozialen Diensten begründet.
Die Jagd nach
Ministandards
Die Richtlinie dient der Beseitigung von Hindernissen
zweier Grundfreiheiten: der Niederlassungs- und der Dienstleistungsfreiheit.
Artikel 14 des Kommissionspapiers listet eine Reihe staatlicher Auflagen bei der
Niederlassung auf, die laut Bolkestein »schlichtweg verschwinden«
müssen. Demnach dürften die Mitgliedstaaten künftig nicht mehr
die Form einer Niederlassung vorschreiben. Sie dürften keine Auflage
erteilen, eine Hauptniederlassung statt einer Tochtergesellschaft oder
Zweigstelle auf ihrem Hoheitgebiet zu unterhalten. Auch dürften sie nicht
mehr verlangen, daß Dienstleister für eine Mindestdauer auf ihrem
Territorium tätig oder in den Unternehmensregistern eingetragen sind.
Schließlich wäre es nicht mehr erlaubt, die Errichtung von
Niederlassungen in mehreren Mitgliedstaaten bzw. die oftmals rein formale
Mehrfachregistrierung zu verbieten.
Allein diese Bestimmungen
dürften eine Lawine von Sitzverlagerungen innerhalb der Europäischen
Union auslösen. Die Karawane, die sich auf die Suche nach den
günstigsten Standorten mit den niedrigsten Auflagen begibt, würde
dabei nicht nur von Großkonzernen angeführt, sondern auch klein- und
mittelständische Unternehmen mit sich ziehen. Denn schon heute ist es weder
übermäßig aufwendig noch sonderlich kostspielig, eine
Briefkasten-Firma im europäischen Ausland zu gründen. War hierfür
bisher die Steuerflucht das treibende Motiv, kommt mit der Bolkestein-Richtlinie
ein ganzer Reigen weiterer Anreize hinzu, wie die Umgehung von Umwelt-, Arbeits-
und Gesundheitsstandards, Qualifikationsanforderungen und Tarifverträgen.
Schon jetzt warten diverse EU-Staaten mit verschiedensten
Unternehmenskonstruktionen vornehmlich für die grenzüberschreitende
Steuerflucht auf, seien dies sogenannte Koordinierungszentren (in Belgien,
Luxemburg, Spanien und Deutschland), Holdinggesellschaften (in den Niederlanden,
Luxemburg, Österreich und Dänemark) oder diverse
Finanzdienstleistungs-, Verwaltungs- und Logistikzentren (in Irland, Frankreich
und Italien).
Sollte die Bolkestein-Richtlinie durchkommen, wäre
es nur eine Frage der Zeit, bis spezifische Unternehmensvehikel für die
Ausnutzung der unterschiedlichen Regulierungsniveaus zwischen den EU-Mitgliedern
entwickelt würden. Heerscharen an Arrangeuren, Managern und
Treuhändern stünden für die Konzeption, Anmeldung und Betreuung
derartiger Konstrukte zur Verfügung. Die nicht zu unterbindende
Mehrfachregistrierung würde es dann einem deutschen Unternehmen
ermöglichen, mit einer Sparte formal von den Niederlanden aus EU-weit
tätig zu werden (also auch innerhalb Deutschlands), mit einer anderen aus
Belgien – je nach dem, wo die Rahmenbedingungen für den jeweiligen
Geschäftszweig am günstigsten sind. Entsprechend erwartet die
Industriegewerkschaft Bauen-Agrar-Umwelt eine »riesige
›Ausflaggungswelle‹ von Dienstleistungsunternehmen in Länder
mit den niedrigsten rechtlichen Anforderungen und Kontrollen für ihre
unternehmerische Tätigkeit«.
Auflagen
schleifen
Andere staatliche Auflagen der Niederlassungfreiheit sollen
einem sogenannten »Screening-Verfahren« unterworfen werden (Artikel
15). Die Mitgliedstaaten müssen sie selbst auf Diskriminierungsfreiheit,
Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit überprüfen und
gegenüber der Kommission und den übrigen Mitgliedstaaten im Zuge einer
gegenseitigen Evaluierung rechtfertigen. Dieses Verfahren bricht mit dem
bisherigen Prozedere bei Vertragsverletzungen, da die EU-Mitglieder ihre
Vorschriften gegenüber der Kommission zu legitimieren haben, ohne daß
diese zuvor einen möglichen Verstoß gegen EU-Recht feststellen
müßte. Zu den Vorschriften, die zu überprüfen und
gegebenenfalls zu beseitigen sind, gehören staatliche Anforderungen an die
Rechtsform von Unternehmen, an die Kapitalausstattung, an Qualifikationen der
Mitarbeiter, festgesetzte Mindestpreise oder mengenmäßige
Zulassungsgrenzen.
Welche Folgen die gegenseitige Evaluierung haben
könnte, erschließt sich erst bei Berücksichtigung des
spezifischen gesellschaftlichen Zwecks, den die zu prüfenden Auflagen
erfüllen. Mengenmäßige Beschränkungen betreffen regionale
Höchstgrenzen bei der Zulassung von zahlreichen Gewerben – vom
Taxiunternehmen bis zur Arztpraxis. Sie können dazu dienen, ein
Überangebot in einzelnen Gebieten zu verhindern und damit den am Markt
tätigen Dienstleistern überhaupt ein wirtschaftliches Überleben
zu sichern. Umgekehrt wirken sie dadurch gegebenenfalls einer Unterversorgung in
benachteiligten Gebieten entgegen. Im Gesundheitswesen trägt die gesteuerte
Zulassung medizinischer Dienstleister, deren Behandlungskosten von den
Sozialkassen erstattet werden, zur Kontrolle der Kostenentwicklung bei. Die
Umstellung von derartigen mengenmäßigen und territorialen
Steuerungsmechanismen auf reine Marktsteuerung zieht unabsehbare
gesellschaftliche Folgekosten nach sich. Allein ein forcierter
Verdrängungswettbewerb mit zunehmenden Unternehmensinsolvenzen würde
die öffentlichen Kassen mit den dann fällig werdenden Sozialtransfers
belasten.
Die Kommission heißt jedoch auch die exzessivsten
Formen des Wettbewerbs willkommen. Dies unterstreicht sie mit der Absicht,
festgesetzte Mindestpreise und Verkäufe unter dem Einstandspreis schleifen
zu wollen. Dadurch geraten nicht nur die für viele Freiberufler wichtigen
Honorarordnungen unter Druck, sondern auch wettbewerbsrechtliche Verbote von
Dumpingpreisen. Letzteres würde dem Verdrängungswettbewerb durch
transnationale Konzerne Tür und Tor öffnen. Künftig könnten
sie mit zeitlich befristeten Dumpingangeboten, finanziert durch konzerninterne
Quersubventionen, aggressiv neue Märkte erobern. Kehrseite derart
radikalisierter Preiskämpfe ist ein steigender Druck auf
Arbeitsbedingungen, Löhne und Produktqualität.
Auflagen,
nach denen für bestimmte Tätigkeiten »juristische Personen«,
also Unternehmen, zu gründen sind, werden ebenfalls der gegenseitigen
Evaluierung unterworfen. Damit reagiert die Richtlinie auf den Trend,
Beschäftigte und Erwerbslose in kaum überlebensfähige
Mini-Selbständigkeiten zu drängen. Die mit den »Ich-AGs« der
Hartz-Gesetze betriebene Legalisierung prekärer
»Scheinselbständigkeiten« findet nunmehr ihre binnenmarktliche
Fortsetzung.
* Teil 2:
Marktradikaler Sozialraub
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http://www.jungewelt.de/2005/04-06/004.php