Nashornpower Bochumer Sozialforum
 Info zum Forum   Termine   Querbeet   Materialien   Presse   Links   Mailingliste   Kontakt 

Alarmstufe Armut

Dachverband der Wohlfahrtsverbände fordert »neue APO« gegen Sozialkahlschlag
Nur eine »schlagkräftige neue APO«, also eine außerparlamentarische Opposition nach dem Vorbild der 68er Studentenbewegung in der BRD, böte die Chance, die soziale Frage wieder in den Mittelpunkt der politischen Diskussion in Deutschland zu befördern. Die geplanten Großdemonstrationen in Berlin, Köln und Stuttgart im Rahmen der Europäischen Aktionstage für Arbeit und soziale Gerechtigkeit am 2. und 3. April seien dabei ein wichtiger Schritt.

 

junge Welt vom 05.03.2004
Rainer Balcerowiak

Die Bereitschaft, der Sozialkahlschlagspolitik der Bundesregierung aktiven Widerstand entgegenzusetzen, wächst offenbar auch in den etablierten, traditionellen Sozialverbänden. Mit sichtbarer Empörung verurteilten Vertreter der Nationalen Armutskonferenz (NAK), einem Zusammenschluß aller großen Wohlfahrtsverbände wie Caritas, Arbeiterwohlfahrt, Diakonisches Werk und Deutsches Rotes Kreuz, und verschiedener Verbände sowie freier Träger am Donnerstag in Berlin die geplanten Neuregelungen bei der Sozialhilfe, die im April im Bundestag verabschiedet werden und im kommenden Jahr in Kraft treten sollen.

Die »Gewährung der Menschenwürde ist inzwischen in Deutschland offenbar konjunkturabhängig«, bewertete der scheidende NAK-Sprecher Paul Saatkamp die geplante Gesetzesnovelle und darüber hinaus die pauschale Absenkung der Arbeitslosenhilfe. Durch die Neuberechnung der Regelsätze und die Pauschalierung von Sonderausgaben wie Kleidung würden dann insgesamt fünf Millionen Menschen, darunter 1,4 Millionen Kinder und Jugendliche, in ein »Armutsghetto« abgeschoben werden. Es sei bezeichnend, daß besonders Paare mit Kindern und Alleinerziehende durch die Neuregelungen überproportional belastet würden. Ferner seien die beträchtlichen Mehraufwendungen, die durch Praxisgebühren und andere Zuzahlungen im Gesundheitswesen auf Bedürftige zukämen, in keiner Weise bei der pauschalierten Regelsatzberechnung berücksichtigt worden. Da die Anpassung der Regelsätze zudem nicht an die Steigerung der Lebenshaltungskosten, sondern an die Rentenerhöhungen gekoppelt sind, würden sich die Existenzbedingungen für diesen Personenkreis kontinuierlich weiter verschlechtern, so Saatkamp. Dabei sei allgemein bekannt, daß das Niveau der Sozialhilfe kaufkraftbereinigt bereits jetzt zehn Prozent unter dem von 1992 und 16 Prozent unter dem sogenannten soziokulturellen Mindestbedarf liegt. Er bezifferte das Gesamtvolumen der geplanten Leistungskürzungen für Arbeitslosen- und Sozialhilfeempfänger im kommenden Jahr auf bis zu sieben Milliarden Euro.

Saatkamps Nachfolger im NAK-Sprecheramt, Hans-Jürgen Marcus, wies besonders auf den Zusammenhang zwischen der Absenkung von Sozialleistungen und des allgemeinen Lohnniveaus hin. Durch die Vorgaben der »Agenda 2010« und der »Hartz-Gesetze« solle die existenzsichernde Funktion der Unterstützung für Erwerbslose bewußt ausgehebelt werden. Erklärtes Ziel sei es, daß Arbeitslose »jede Arbeit zu jedem Preis« annehmen – mit entsprechenden Folgen für das allgemeine Lohnniveau. Auch Studien von Sozialwissenschaftlern und vom DGB schlagen Alarm: Demnach gehören bereits zehn Prozent aller Erwerbstätigen zur Gruppe der »Einkommensarmen«, die trotz Erwerbstätigkeit Anspruch auf ergänzende Sozialleistungen hätten. Durch die »faktische Wiedereinführung der Tagelöhnerei« werde für viele Menschen die Zukunft von einem »Drehtüreffekt« zwischen Sozialleistungen unterhalb des Existenzminimums und zeitweiligen Billigjobs geprägt sein, prophezeite Saatkamp.

Als besonders skandalös bezeichnete es der scheidende NAK-Sprecher, der sich nach eigenem Bekunden seit Jahrzehnten »als Sozialdemokrat den Grundwerten Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität verpflichtet fühlt«, daß »ausgerechnet eine SPD-Regierung für eine wachsende Kluft zwischen Arm und Reich verantwortlich ist«. Generell sehe er bei den Politkern, egal welcher Partei, keine Bereitschaft mehr, sich mit dem Problem der wachsenden Armut überhaupt auseinanderzusetzen. Nur eine »schlagkräftige neue APO«, also eine außerparlamentarische Opposition nach dem Vorbild der 68er Studentenbewegung in der BRD, böte die Chance, die soziale Frage wieder in den Mittelpunkt der politischen Diskussion in Deutschland zu befördern. Die geplanten Großdemonstrationen in Berlin, Köln und Stuttgart im Rahmen der Europäischen Aktionstage für Arbeit und soziale Gerechtigkeit am 2. und 3. April seien dabei ein wichtiger Schritt.
-----------------------
Adresse: http://www.jungewelt.de/2004/03-05/001.php
Ausdruck erstellt am 05.03.2004 um 10:43:15 Uhr
 
impressum